Whistleblowing

Anzeige gegen den Arbeitgeber – Kündigungsgrund?

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Arbeitnehmer, die sich ungerecht im Betrieb behandelt fühlen, gehen manchmal den Weg der anonymen Anzeige gegen den Arbeitgeber. Die Frage stellt sich, ob dies zulässig ist oder ggfs. sogar den Arbeitgeber zu einer Kündigung berechtigt.

Whistleblowing

Strafanzeige Arbeitgeber Kündigung
Anzeige gegen Arbeitgeber erlaubt?

Das Anzeigen/ Anschwärzen des Arbeitgebers (sog Whistleblowing) gegenüber Behörden (Gesundheitsamt/ Zoll) oder der Presse aber auch eine Strafanzeige können ein wichtiger Grund zur Kündigung sein.

Anzeigen ohne Grund

Dies ist zumindest dann der Fall, wenn die beanstandeten Zustände im Betrieb weder gesetzeswidrig sind, noch sonst verwerflich sind und dies der Arbeitnehmer auch wusste oder hätte wissen können. Dies ist nachvollziehbar, denn dann gibt es für die Anzeige auch keinen Grund.

unerkannte Missstände im Betrieb

Anders ist dies aber, wenn es zwar gesetzwidrige Zustände im Betrieb des Arbeitgebers gibt, dieser davon aber nichts wusste.

Der Arbeitgeber darf nämlich darauf vertrauen, dass ein bisher unbekanntes, auch grob fahrlässig nicht erkanntes gesetzwidriges Verhalten im Betrieb nicht sofort an die Öffentlichkeit gerät.

Arbeitgeber hat Kenntnis oder billigt Zustände und handelt nicht

Das gilt jedoch nur so lange, bis der Arbeitgeber davon Kenntnis erlangt, die Zustände nicht billigt und eine angemessene Zeit zur Beseitigung gehabt hat, so z.B. das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg in NZA 1987, 756.

Grundsatz – Bundesarbeitsgericht

Das Bundesarbeitsgericht steht aber auf dem Standpunkt, dass eine außerordentliche Kündigung durch den Arbeitgeber erst möglich ist, wenn der Arbeitnehmer gegen ihn bei staatlichen oder anderen Stellen eine Anzeige erstattet, unabhängig davon, ob der Arbeitgeber gesetzwidrig gehandelt hat oder nicht (Bundesarbeitsgerichts vom 5. Februar 1959 – 2 AZR 60/56 – AP Nr. 2 zu § 70 HGB).

Information des Arbeitgebers durch Arbeitnehmer vor Anzeige

Sofern der Arbeitnehmer im Rahmen seiner Tätigkeit mit gesetzwidrigen Praktiken des Unternehmens konfrontiert wird, hat er – bevor er seine Anzeige erstattet – zur Abhilfe den Arbeitgeber innerbetrieblich zu informieren, ggfs. über den Betriebsrat.

erst dann Anzeige, aber nicht an Presse

Werden daraufhin die gesetzwidrigen Zustände beim Arbeitgeber nicht innerhalb angemessener Zeit beseitigt, ist kein Vertrauenstatbestand zugunsten des Arbeitgebers ersichtlich. Auch ist zu beachten, dass die Anzeige des Arbeitnehmers über Missstände beim Arbeitgeber unter dem Schutz der freien Meinungsäußerung nach Art 10 EMRK steht.

Anzeige an Presse in der Regel treuwidrig

Dies gilt allerdings nur für die Anzeige bei der zuständigen Ordnungsbehörde, die Information an die Presse ist regelmäßig treuwidrig.

Anzeige muss angemessen sein

Auch in sonstiger Hinsicht muss die Anzeige des Arbeitnehmer angemessen / verhältnismäßig sein.

Rachefeldzug des Arbeitnehmers – nicht zulässig

Wird die Anzeige z.B. aus privater Motivation heraus erhoben, etwa um sich beim Arbeitgeber zu rächen (was oft nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses vorkommt), handelt es sich nicht um die Wahrnehmung berechtigter Interessen (BAG Urteil vom 4.7.1991 – 2 AZR 80/91).

Das Bundesarbeitsgericht (BAG, Urteil vom 04. Juli 1991 – 2 AZR 80/91) führt dazu aus:

Nach § 626 BGB kann das Arbeitsverhältnis von jedem Vertragsteil aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Da das Gesetz keine Regelung enthält, wie die Tatsache einer Anzeige des Arbeitnehmers gegen den Arbeitgeber zu bewerten ist, ist davon auszugehen, daß eine solche Anzeige des Arbeitnehmers eine „Tatsache“ (unter anderen) ist, die unter Berücksichtigung des Einzelfalles und der Abwägung der Interessen beider Vertragsteile von Bedeutung sein kann.

Nach der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 5. Februar 1959 (- 2 AZR 60/56 – AP Nr. 2 zu § 70 HGB) kann eine gegen den Arbeitgeber erstattete Anzeige einen wichtigen Grund zur Kündigung darstellen. In dieser Entscheidung wird bereits ausgeführt, der Begriff des wichtigen Grundes sei nur dann richtig erkannt und richtig angewandt, wenn sich die Zumutbarkeitsprüfung auf alle vernünftigerweise in Betracht kommenden Umstände des Einzelfalles erstrecke und diese vollständig und widerspruchsfrei gegeneinander abwäge. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus inzwischen ergangenen Entscheidungen der Landesarbeitsgerichte (LAG Düsseldorf, Urteil vom 18. Januar 1961 – 2 Sa 393/60 -, BB 1961, 532; LAG Berlin, Urteil vom 25. November 1960 – 3 Sa 88/60 -, DB 1961, 576; LAG Baden-Württemberg, Urteil vom 3. Februar 1987 – 7 (13) Sa 95/86 -, NZA 1987, 756; LAG Frankfurt am Main Urteil vom 12. Februar 1987 – 12 Sa 1249/86 -, LAGE Nr. 28 zu § 626 BGB), da auch insoweit die Rechtsanwendung nur unter Berücksichtigung der jeweils gegebenen Besonderheiten des Einzelfalles erfolgte. Eine Rechtsanwendung jedenfalls, die einer Anzeige den Wert eines absoluten Kündigungsgrundes zumessen würde, wäre rechtsfehlerhaft, wobei andererseits nicht unberücksichtigt bleiben kann, daß in jedem Falle geprüft werden muß, aus welcher Motivation heraus die Anzeige erfolgte und ob der Arbeitnehmer hierin eine verhältnismäßige Reaktion zu dem Verhalten des Arbeitgebers sehen durfte (vgl. kritisch KR-Hillebrecht, 3. Aufl., § 626 BGB Rz 302; Preis, Prinzipien des Kündigungsrechts bei Arbeitsverhältnissen, S. 365 ff.; ders. DB 1988, 1444, 1447 f.).

Rechtsanwalt Andreas Martin

Fachanwalt für Arbeitsrecht

Kanzlei Berlin Marzahn-Hellersdorf

EGMR: Kündigung nach Strafanzeige des Arbeitnehmers ungerechtfertigt!

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Das Thema interessante Whistleblowing im Arbeitsrecht hatte ich ja schon kurz erläutert. Mittlerweile gibt es auch diverse Entscheidungen zum Whistleblowing; und nun auch des EGMR (Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte):

Whistleblowing und EGMR

Der Knackpunkt ist, inwieweit der Arbeitnehmer – der ja vertraglich mit dem Arbeitgeber verbunden ist und Treuepflichten beachten muss – Missstände im Unternehmen Dritten anzeigen darf und ob er zuvor versuchen muss mit dem Arbeitgeber „das Problem“ zu lösen und ob der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis mit dem Arbeitnehmer verhaltensbedingt kündigen darf, wenn sich der Arbeitnehmer eben nicht zuvor an den Arbeitgeber wendet.

Fall des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte

Der EGMR (Entscheidung vom 21.07.2011- Fall Heinisch- 28274/08) entschied nun, dass eine Kündigung einer Arbeitnehmerin, die eine Strafanzeige gegen ihren Arbeitgeber getätigt hatte, unwirksam sei.

Sachverhalt

Eine Altenpflegerin, welche in einer Pflegeklinik in Berlin tätig war, wies die Geschäftsleitung mehrfach darauf hin. dass das Personal bei der Altenpflege überlastet sei und auch Pflegeleistungen nicht ausreichend dokumentiert seien; auch wies der Rechtsanwalt der Altenpflegerin (Beschwerdeführerin) die Geschäftsleitung später nochmals darauf hin, dass aufgrund der Personalmangels die hygienische Versorgung der Patienten nicht mehr gewährleistet sei.

Nachdem die Geschäftsleitung diese Vorwürfe zurückgewiesen hatte, erstattete die Arbeitnehmerin Strafanzeige wegen Betruges mit der Begründung, sie leiste nicht die in der Werbung versprochene hochwertige Pflege. Später wurde die Arbeitnehmerin wegen der häufigen Erkrankungen ordentlich gekündigt. Daraufhin verteilte die Arbeitnehmerin ein Flugblatt und behauptete, dass die Arbeitgeberin sie – wegen der Strafanzeige – mundtot machen wollte. Erst über diese Flugblatt erfuhr die Geschäftsleitung von der Strafanzeige und kündigt nun das Arbeitsverhältnis nochmals fristlos.

Die Arbeitnehmerin erhob Kündigungsschutzklage gegen die fristlose Kündigung vor dem Arbeitsgericht Berlin und gewann das Verfahren. Das Arbeitsgericht Berlin entschied, dass die Äußerungen im Flugblatt durch die Meinungsfreiheit geschützt seien. Das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg hob die Entscheidung allerdings auf. Das Bundesarbeitsgericht sah dies genauso und meinte, dass die erstattete Strafanzeige ein wichtiger Grund für die Kündigung gewesen sei. Daraufhin erhob die Arbeitnehmerin Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht. Das BVerfG nahm die Beschwerde gar nicht an. Sodann zog die emsige Arbeitnehmerin zum EGMR.

Der EGMR sah hier einen Fall von Whistleblowing nach Art. 10 vorliegen. Dieser steht im Spannungsverhältnis zu § 626 Abs. 1 BGB. Letztendlich nahm der EGMR ein Recht der Arbeitnehmerin an die Missstände im Betrieb offenzulegen. Es lagen auch keine Anwaltspunkte vor, dass die Arbeitnehmerin wissentlich falsche Angaben gemacht hatte. Zudem hatte sie sich zunächst an den Arbeitgeber gewannt. Daran ändert auch nicht, dass später das Strafverfahren eingestellt wurde.

Folglich kam der EGMR zu einer Verletzung von Art. 10. Dies führte gemäß Art. 41 dazu, dass die Bundesrepublik für den erlittenen immateriellen Schaden zu entschädigen hatte. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hielt hier eine Entschädigung in Höhe von € 10.000,00 für angemessen und eine Erstattung der Kosten der Arbeitnehmerin in Höhe von € 5.000,00.

Anwalt Martin