LAG Niedersachsen
Kürzung von Urlaub in der Elternzeit

Kürzung von Urlaub in der Elternzeit
Wussten Sie, dass Ihr Arbeitgeber Ihnen den Urlaub in der Elternzeit kürzen kann?
Viele Arbeitnehmer wissen dies nicht und dies gilt auch für Arbeitgeber, dass grundsätzlich der Arbeitgeber den Urlaub in der Elternzeit kürzen kann. Es geht dabei um den Urlaubsanspruch, den der Arbeitnehmer während der Elternzeit erwirbt.
Kürzungsrecht nach § 17 BEEG
§ 17 des Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz – BEEG regelt nämlich die Möglichkeit des Arbeitgebers, dass dieser den Urlaubsanspruch, der für den Arbeitnehmer während der bestehenden Elternzeit entsteht, kürzen kann. Faktisch läuft die Kürzung darauf hinaus, dass letztendlich der Urlaubsanspruch in der Elternzeit entfällt. Wichtig ist dabei, dass der Arbeitgeber dieses Kürzungsrecht auch tatsächlich ausüben muss.
gesetzliche Grundlage für die Kürzung des Urlaubsanspruchs
Wie bereits ausgeführt findet man die Rechtsgrundlage dafür in § 17 des BEEG. Die Norm lautet wie folgt:
§ 17 Urlaub
(1) Der Arbeitgeber kann den Erholungsurlaub, der dem Arbeitnehmer oder der Arbeitnehmerin für das Urlaubsjahr zusteht, für jeden vollen Kalendermonat der Elternzeit um ein Zwölftel kürzen. Dies gilt nicht, wenn der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin während der Elternzeit bei seinem oder ihrem Arbeitgeber Teilzeitarbeit leistet.
§ 17 BEEG
(2) Hat der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin den ihm oder ihr zustehenden Urlaub vor dem Beginn der Elternzeit nicht oder nicht vollständig erhalten, hat der Arbeitgeber den Resturlaub nach der Elternzeit im laufenden oder im nächsten Urlaubsjahr zu gewähren.
(3) Endet das Arbeitsverhältnis während der Elternzeit oder wird es im Anschluss an die Elternzeit nicht fortgesetzt, so hat der Arbeitgeber den noch nicht gewährten Urlaub abzugelten.
(4) Hat der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin vor Beginn der Elternzeit mehr Urlaub erhalten, als ihm oder ihr nach Absatz 1 zusteht, kann der Arbeitgeber den Urlaub, der dem Arbeitnehmer oder der Arbeitnehmerin nach dem Ende der Elternzeit zusteht, um die zu viel gewährten Urlaubstage kürzen.
Abgabe der Kürzungserklärung durch Arbeitgeber
Dazu ist erforderlich, dass der Arbeitgeber eine entsprechende Erklärung abgibt. Diese Kürzungserklärung muss dem Arbeitnehmer nachweislich zugehen. Im Zweifel – oft gibt es später Streit bei der sog. Urlaubsabgeltung – muss der Arbeitgeber also den Zugang dieser Erklärung beim Arbeitnehmer nachweisen.
Entscheidung des LAG Niedersachsen Urteil vom 17.5.2022 – 10 Sa 954/21)
Das Landesarbeitsgericht Niedersachsen (Urt. v. 17.5.2022 – 10 Sa 954/21) hatte nun zwei Probleme im Zusammenhang mit dieser Kürzung des Urlaubs in der Elternzeit zu entscheiden.
Zum einen ging es darum, ob eine tarifliche Norm die Kürzungserklärung des Arbeitgebers ersetzen kann, so dass der Arbeitgeber nicht mehr ausdrücklich gegenüber dem Arbeitnehmer die Kürzung des Urlaubs in der Elternzeit erklären muss. Zum anderen ging es darum, innerhalb welcher Zeitspanne der Arbeitgeber das Kürzungsrecht ausüben muss.
Kürzung durch tarifvertragliche Regelung
Das Landesarbeitsgericht Niedersachsen entschied, dass § 26 Absatz 2 c des TVöD nicht ausreicht, um eine entsprechende Kürzungserklärung in der Elternzeit zu ersetzen. Das Gericht gehe davon aus, dass eine tarifvertraglichen Norm die Kürzungserklärung des Arbeitgebers nicht ersetzen kann.
Zeitrahmen für die Abgabe der Kürzungserklärung
Weiter hat das Landesarbeitsgericht Niedersachsen entschieden, dass der Arbeitgeber grundsätzlich einen weiten zeitlichen Rahmen hat, um sein Kürzungsrecht zu erklären. Das Kürzungsrecht kann vor, während und nach dem Ende der Elternzeit ausgeübt werden. Dabei gelten allerdings zwei Ausnahmen. Zum einen kann das Kürzungsrecht nicht mehr nach dem Ende des Arbeitsverhältnisses erklärt werden. Wenn also das Arbeitsverhältnis beendet ist, kann der Arbeitgeber hier nicht mehr kürzen. Darüberhinaus hat das LAG Niedersachsen entschieden, dass der Arbeitgeber sein Kürzungsrecht auch nicht vor der Erklärung des Arbeitnehmers, dass dieser Elternzeit in Anspruch nimmt, erklärt werden kann.
Rechtsanwalt Andreas Martin
LAG Hessen: Befristung ohne Sachgrund und Vorbeschäftigungsverbot!
Wird ein Arbeitnehmer ohne Sachgrund befristet beschäftigt, ist dies nur zulässig, wenn keine Vorbeschäftigung vorliegt, so steht es im Gesetz:
§ 14 II Teilzeit- und Befristungsgesetz
(2) Die kalendermäßige Befristung eines Arbeitsvertrages ohne Vorliegen eines sachlichen Grundes ist bis zur Dauer von zwei Jahren zulässig; bis zu dieser Gesamtdauer von zwei Jahren ist auch die höchstens dreimalige Verlängerung eines kalendermäßig befristeten Arbeitsvertrages zulässig. Eine Befristung nach Satz 1 ist nicht zulässig, wenn mit demselben Arbeitgeber bereits zuvor ein befristetes oder unbefristetes Arbeitsverhältnis bestanden hat.
Der 7. Senat des Bundesarbeitsgerichts hat in seinen Entscheidungen vom 6. April 2011 (- 7 AZR 716/09) festgelegt, dass es nicht zwingend für eine sachgrundlose Befristung sein muss, dass noch nie eine Vorbeschäftigung bestanden hat. Ausreichend ist danach, dass in den letzten 3 Jahren vor Abschluss des Arbeitsvertrags jedenfalls keine Beschäftigung vorliegt. Diese Entscheidung ist in der juristischen Literatur auf sehr starke Kritik gestoßen. Insbesondere wegen des Wortlauts der obigen Regelung, der eine solche Auslegung nur schwer zulässt.
Einige Landesarbeitsgerichte (LAG Baden-Württemberg, LAG Niedersachsen) sind dieser Rechtsprechung nicht gefolgt. Dem schließt sich nun auch das LAG Hessen Urteil vom 11.07.2017 – 8 Sa 1578/16 an.
Der Entscheidung des LAG Hessen lag folgender Fall zu Grunde:
Eine Arbeitnehmerin war beim Arbeitgeber zunächst vom Jahr 2005 bis 2008 beschäftigt. Später wurde diese wieder mit Wirkung zum 1. Juli 2014 in Vollzeit befristet bis zum 30. Juni 2015 ohne Sachgrund eingestellt.
Mit Änderungsvereinbarung vom 9. April 2015 vereinbarten die Parteien die weitere Beschäftigung der Arbeitnehmerin bis zum 30. Juni 2016.
Die Arbeitnehmerin klagte auf Feststellung, dass das Arbeitsverhältnis unbefristet (Entfristungsklage und Befristungskontrollklage) besteht. Der Arbeitgeber meinte, dass die Befristung ohne Sachgrund rechtmäßig war, da die letzte Beschäftigung im Jahr 2008, also vor mehr als 3 Jahren bestand.
Das Arbeitsgericht gab der Arbeitnehmerin Recht. Die Berufung des Arbeitgebers zum LAG Hessen hatte keinen Erfolg.
Das Landesarbeitsgericht Hessen (Urteil vom 11.07.2017 – 8 Sa 1578/16) führte aus:
Die letzte sachgrundlose Befristung vom 9. April 2015 ist rechtsunwirksam. Sie verstößt gegen das Vorbeschäftigungsverbot in § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG und beendet das Arbeitsverhältnis der Parteien daher nicht zum 30. Juni 2016.
Nach § 14 Abs. 2 Satz 1 TzBfG ist die kalendermäßige Befristung eines Arbeitsvertrages ohne Vorliegen eines sachlichen Grundes bis zur Dauer von zwei Jahren zulässig; bis zu dieser Gesamtdauer von zwei Jahren ist auch die höchstens dreimalige Verlängerung eines kalendermäßig befristeten Arbeitsvertrages zulässig. Eine Befristung nach Satz 1 ist nicht zulässig, wenn mit demselben Arbeitgeber bereits zuvor ein befristetes oder unbefristetes Arbeitsverhältnis bestanden hat, § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG.
Die Frage, ob mit der Formulierung „bereits zuvor“ in § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG gesetzlich ein zeitlich unbegrenztes Vorbeschäftigungsverbot geregelt ist, hat der 7. Senat des Bundesarbeitsgerichts in seinen Entscheidungen vom 6. April 2011 (- 7 AZR 716/09 – NZA 2011, 905 ff. [BAG 06.04.2011 – 7 AZR 716/09]) und 21. September 2011 (- 7 AZR 375/10 – NZA 2012, 255 ff. [BAG 21.09.2011 – 7 AZR 375/10]) dahingehend beantwortet, dass eine Vorbeschäftigung iSv. § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG nicht gegeben sei, wenn das frühere Arbeitsverhältnis mehr als drei Jahre zurückliege.
Dieser Rechtsprechung sind ua. das Landesarbeitsgericht Nürnberg in seiner Entscheidung vom 8. Mai 2013 (- 2 Sa 501/12 – nv.) und das Landesarbeitsgericht Hamm in seiner Entscheidung vom 15. Dezember 2016 (-11 Sa 735/16 – nv. juris) gefolgt. Die gegen die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Nürnberg eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde hat das Bundesarbeitsgericht mit Beschluss vom 11. September 2013 (- 7 AZN 655/13 -) zurückgewiesen. Dies ist ua. Gegenstand einer beim Bundesverfassungsgericht unter dem Az. 1 BvR 3041/13 eingelegten Verfassungsbeschwerde, über die noch nicht entschieden worden ist. Unter anderem die Kammern 3 (13. Oktober 2016 – 3 Sa 34/16 – FA 2016, 377), 6 (26. September 2013 – 6 Sa 28/13 – LAGE TzBfG § 14 Nr. 78) und 7 (21. Februar 2014 – 7 Sa 64/13 – LAGE TzBfG § 14 Nr. 82) des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg sind dem Bundesarbeitsgericht nicht gefolgt. Das Landesarbeitsgericht Niedersachsen ist dem Bundesarbeitsgericht in seiner Entscheidung vom 16. Februar 2016 (- 9 Sa 376/15 – nv. juris) ebenfalls nicht gefolgt. Diese Gerichte haben angenommen, dass nach den Kriterien der Gesetzesauslegung § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG als zeitlich uneingeschränktes, mithin absolutes Anschlussverbot zu verstehen sei. Über die hiergegen eingelegten Revisionen ist – soweit keine anderweitige Erledigung eingetreten ist – noch nicht entschieden. Das Arbeitsgericht Braunschweig hat mit Beschluss vom 3. April 2014 (- 5 Ca 463/13 – LAGE TzBfG § 14 Nr. 83) eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts darüber eingeholt, ob § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG mit Art. 12 Abs. 1 GG, Art. 2 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar ist. Auch hierüber ist noch nicht entschieden.
Bereits in seiner Entscheidung vom 6. November 2003 (- 2 AZR 690/02 – NZA 2005, 218 ff. [BAG 06.11.2003 – 2 AZR 690/02]) hat der 2. Senat des Bundesarbeitsgerichts entschieden, dass das Anschlussverbot – anders als noch § 1 Abs. 3 BeschFG 1996 – keine zeitliche Begrenzung enthält. Die hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde hat das Bundesverfassungsgericht mit der Begründung nicht zur Entscheidung angenommen, dass keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich seien, dass die Entscheidung gegen die Berufsfreiheit des Beschwerdeführers aus Art. 12 Abs. 1 GG verstoße (vgl. BVerfG 11. November 2004 -1 BvR 930/04 – nv. juris).
Die Kammer folgt ebenfalls nicht der Rechtsprechung des 7. Senats des Bundesarbeitsgerichts, sondern schließt sich der Auffassung des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg und des 2. Senats des Bundesarbeitsgerichts an. Danach ist § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG als zeitlich unbeschränktes Vorbeschäftigungsverbot zu verstehen. Dies ergibt die Auslegung anhand von Wortlaut, Regelungssystematik, Entstehungsgeschichte des Gesetzes und Normzweck.
Der Wortsinn der Adverbialkonstruktion „bereits zuvor“ ist als Teil der Gesetzesfassung des § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG fach- und umgangssprachlich bei unbefangener Bewertung eindeutig. „Bereits zuvor“ bedeutet, dass jedes frühere Arbeitsverhältnis der Befristung entgegensteht, gleich ob es erst wenige Tage oder viele Jahre zuvor beendet worden war. Das Adverb „zuvor“ bedeutet zeitlich vorhergehend (vgl. zB http://www.duden.de/rechtschreibung/zuvor). Wortbedeutung und Kontext im Textgefüge des § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG („Arbeitsverhältnis, das mit demselben Arbeitgeber bereits bestanden hat“) beinhalten weder eine zeitliche noch eine inhaltliche Begrenzung der Wortbedeutung. Für die Eindeutigkeit der Wortbedeutung und gegen die vom Bundesarbeitsgericht in seiner Entscheidung vom 6. April 2011 angenommene Mehrdeutigkeit spricht auch die gesetzessystematische Textvergleichung. Sofern der Gesetzgeber auf einen unmittelbar vor Abschluss des befristeten Vertrages bestehenden Zeitraum abstellen wollte, hat er dies auch ausdrücklich so formuliert, etwa in § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 TzBfG „Befristung im Anschluss an eine Ausbildung oder an ein Studium“ oder in § 14 Abs. 3 Satz 1 TzBfG „unmittelbar vor Beginn des befristeten Arbeitsverhältnisses mindestens vier Monate beschäftigungslos“. Soweit das Bundesarbeitsgericht in der vorgenannten Entscheidung im Rahmen der Erkenntnis des Wortsinns auf die Kontextabhängigkeit abstellt, ist unverständlich, weshalb es dafür nicht die Gesetzesgenese berücksichtigt (vgl. LAG Baden-Württemberg 21. Februar 2014 – 7 Sa 64/13 – LAGE TzBfG § 14 Nr. 82 mwN.).
Die Gesetzgebungsgeschichte bestätigt den Wortsinnbefund. Das belegen die Gesetzgebungsmaterialien, die zur Erfassung des objektiven Willens des Gesetzgebers heranzuziehen sind. Die vom Gesetzgeber in den Materialien selbst vorgenommene Definition des Begriffs der „Neueinstellung“ bezweckt in Bestätigung des Wortsinns ein zeitlich uneingeschränktes Anschlussverbot. Unter Neueinstellung versteht der Gesetzgeber die „erstmalige Beschäftigung eines Arbeitnehmers durch einen Arbeitgeber“ (BT-Drucks. 14/4374, S. 14). Dem entspricht die Gesetzesformulierung „bereits zuvor“ und ist also nicht etwa ein Versehen. Ersichtlich wurde die Formulierung „bereits zuvor“ bewusst gewählt, um das Regelungsanliegen des Gesetzgebers zutreffend zum Ausdruck zu bringen. Dass die sachgrundlose Befristung nur bei einer Neueinstellung zulässig ist, erfuhr im Gesetzgebungsverfahren Kritik. Beispielsweise hat Preis vor dem Ausschuss vor Arbeit und Sozialordnung des Bundestages darauf hingewiesen, dass das Ziel, Kettenbefristungen zu vermeiden, auch mit Hilfe einer zweijährigen Sperrzeit erreicht werden könne (BT-Drucks. 14/4625, S. 18). Ebenso lehnten die Mitglieder der Unionsfraktion die Beschränkung der sachgrundlosen Befristungsmöglichkeit auf „Neueinstellungen“ ab (BT-Drucks. 14/4625, S. 19). Gleichwohl hat sich der Gesetzgeber trotz dieser Kritik für eine nur „einmalige Möglichkeit der Befristung ohne Sachgrund“ entschieden (BT-Drucks. 14/4374, S. 14; Höpfner NZA 2011, 893, 898). Dass der Gesetzgeber ein zeitlich unbeschränktes Anschlussverbot geregelt hat, belegen auch die parlamentarischen Initiativen zur Änderung von § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG nach Inkrafttreten des TzBfG im Jahr 2001. Eine Vielzahl von der Bundesregierung, aus der Mitte des Bundestages bzw. von Länderseite eingebrachter Gesetzesentwürfe sah eine zeitliche Begrenzung des Vorbeschäftigungsverbotes vor (zB Entwurf eines Fünften Gesetzes zur Änderung des SGB III, Bundesregierung, BR-Drucks. 320/05, Karenzzeit zur vorherigen Beschäftigung: zwei Jahre; Entwurf eines Gesetzes zur Lockerung des Verbotes wiederholter Befristung, FDP, BT-Drucks. 15/5270, Karenzzeit: drei Monate; Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Teilzeit- und Befristungsgesetzes, Thüringen, BR-Drucks. 469/04, Karenzzeit: drei Monate; Entwurf eines Gesetzes zur Flexibilisierung des Arbeitsrechts, Bayern, BR-Drucks. 863/02, Karenzzeit: drei Monate; Entwurf eines Gesetzes für mehr Wachstum und Beschäftigung durch nachhaltige Reformen am Arbeitsmarkt, BR-Drucks. 456/03, Karenzzeit: drei Monate; vgl. dazu Kossens jurisPR-ArbR 37/2011 Anm. 1). Diese Gesetzesentwürfe sind mangels parlamentarischer Mehrheit oder aus Gründen der Diskontinuität nicht beschlossen worden (vgl. zur Entwicklungsgeschichte des § 14 TzBfG auch Höpfner, NZA 2011 893, 897 f.; vgl. LAG Baden-Württemberg 21. Februar 2014 – 7 Sa 64/13 – LAGE TzBfG § 14 Nr. 82 mwN.).
Auch die Regelungssystematik des in § 14 TzBfG untergebrachten allgemeinen Befristungsrechts spricht für ein zeitlich uneingeschränktes Anschlussverbot. Absatz 1 des § 14 TzBfG stellt im Sinne eines Regel-Ausnahme-Verhältnisses den Grundsatz auf, dass eine Befristung eines Arbeitsvertrages nur dann zulässig ist, wenn sie durch einen sachlichen Grund gerechtfertigt ist. Ist keiner der im Gesetz genannten Gründe und auch kein gleichwertiger Sachgrund gegeben, ist die Befristung unzulässig. Abweichend von diesem Grundsatz gestattet der Gesetzgeber enumerativ in § 14 Abs. 2 bis 3 TzBfG in bestimmten Konstellationen privilegierte Ausnahmen. Neben den tatbestandlich eng begrenzten Privilegierungen von Existenzgründern und der Arbeitsverträge mit älteren, zuvor arbeitslosen Arbeitnehmern ist der konzeptionelle Ausnahmetatbestand der sachgrundlosen Befristung nur zulässig, wenn zwischen den Parteien des befristeten Arbeitsvertrages nicht „bereits zuvor“ ein Arbeitsverhältnis bestanden hat. Ein zeitlich unbeschränktes Anschlussverbot entspricht der Regelungssystematik des Rechts der Befristung als Begrenzung der Ausnahme der sachgrundlosen Befristung (vgl. LAG Baden-Württemberg 21. Februar 2014 – 7 Sa 64/13 – LAGE TzBfG § 14 Nr. 82 mwN.).
Der Normzweck des § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG gebietet die Interpretation als zeitlich unbeschränktes Vorbeschäftigungsverbot. Der Gesetzgeber bestimmt den Zweck des Gesetzes. Die Einschränkung der erleichterten Befristung von Arbeitsverträgen in § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG bezweckt den Ausschluss der „theoretisch unbegrenzt möglichen Aufeinanderfolge befristeter Arbeitsverträge“ (Kettenverträge; BT-Drucks. 14/4374, S. 14). Zur Erreichung des Regelungszwecks, Kettenbefristungen auszuschließen, hat der Gesetzgeber auch das Mittel bestimmt, um dieses Ziel im Anwendungsbereich der sachgrundlosen Befristung zu erreichen. Der Gesetzgeber hat ausweislich der Gesetzesmaterialien (BT-Drucks. 14/4374, S. 14, 19), für die Gerichte verbindlich, die erleichterte Befristung eines Arbeitsvertrages nur bei einer Neueinstellung zugelassen, das heißt bei der erstmaligen Beschäftigung eines Arbeitnehmers durch einen Arbeitgeber (vgl. LAG Baden-Württemberg 21. Februar 2014 – 7 Sa 64/13 – LAGE TzBfG § 14 Nr. 82 mwN.).
Eine verfassungskonforme Auslegung des § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG ist nicht geboten. Das zeitlich unbeschränkte Vorbeschäftigungsverbot verstößt nicht gegen Art. 12 Abs. 1 GG.
Die Berufsausübungsfreiheit eines Arbeitnehmers ist durch das Vorbeschäftigungsverbot nicht eingeschränkt. Die Berufsausübungsfreiheit ist tangiert, wenn der Grundrechtsträger durch objektive oder subjektive Zulassungsregelungen daran gehindert wird, einen bestimmten Beruf oder eine bestimmte Tätigkeit auszuüben. Die subjektiven Zulassungsvoraussetzungen knüpfen an Vorgaben an, die in der Person des Grundrechtsträgers begründet sind wie zB die persönliche oder fachliche Eignung. Objektive Berufsausübungsregelungen knüpfen an allgemeine Kriterien an, die die Ausübung des Berufs/der Tätigkeit regeln. Hier kann allenfalls die objektive Berufsausübung geregelt sein, da Anforderungen an die Person nicht gestellt werden. Der Arbeitnehmer kann aber nach wie vor mit jedem Arbeitgeber einen Arbeitsvertrag schließen. Der Arbeitsvertrag kann unbefristet oder mit Sachgrund befristet sein. Es ist lediglich die Vertragsgestaltung Befristung ohne Sachgrund verwehrt, wenn eine Vorbeschäftigung vorliegt. Das Bundesarbeitsgericht hat hierzu in seiner Entscheidung vom 6. April 2011 ausgeführt, dass die Praxis zeige, dass der strukturell unterlegene Arbeitnehmer deshalb diese konkrete Vertragsgestaltung nicht wählen kann und die von ihm begehrte Tätigkeit daher nicht ausüben kann. Ob dieser Befund uneingeschränkt so übernommen werden kann, vermag die Kammer nicht zu beurteilen. Statistische Erhebungen hierzu liegen soweit ersichtlich nicht vor. Es dürfte jedoch stark auf die jeweilige Marktsituation, Art und Anforderungen an die ausgeschriebene Stelle und auf die Person des Bewerbers ankommen (LAG Niedersachsen 16. Februar 2016 – 9 Sa 376/15 – nv. juris).
Selbst wenn man jedoch einen Verstoß gegen Art. 12 Abs. 1 GG annehmen würde, weil die Berufsausübung betroffen ist, wäre diese gerechtfertigt. Die Freiheit der Berufsausübung kann beschränkt werden, soweit vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls es zweckmäßig erscheinen lassen. Der Grundrechtsschutz beschränkt sich auf die Abwehr in sich verfassungswidriger, weil etwa übermäßig belastender und nicht zumutbarer Auflagen. Der relativ geringe und nur in Zusammenhang mit einer bestimmten vertraglichen Konstruktion vorkommende Eingriff in die Berufsausübung ist durch vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls gerechtfertigt. Der Normalfall im deutschen Arbeitsrecht ist immer noch der Abschluss eines unbefristeten Arbeitsvertrages. Befristungen sind unter den geschilderten Voraussetzungen möglich. Es gibt ausreichend Möglichkeiten, Arbeitsverträge auch über einen längeren Zeitraum bei Vorliegen entsprechender Gründe zu befristen. Gerade vor dem Hintergrund, dass der Gesetzgeber das Vorbeschäftigungsverbot an das Bestehen eines Arbeitsvertrages bei „demselben Arbeitgeber“ angeknüpft hat, zeigt, dass das Vorbeschäftigungsverbot auch über einen längeren Zeitraum gelten muss. Verschiedene Arbeitgeber innerhalb eines Konzerns oder auch ohne rechtliche Verbindung können bei einer zeitlichen Begrenzung des Vorbeschäftigungsverbotes auf drei Jahre oder auch auf einen anderen Zeitraum einen Arbeitnehmer letztendlich doch ein Leben lang nur befristet beschäftigen, wenn der Vertragspartner regelmäßig wechselt. Dies ist insbesondere auch vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zu sehen, wonach derselbe Arbeitgeber der Vertragsarbeitgeber ist. Wird dann noch von der Möglichkeit der Verlängerung der Befristungsdauer nach § 14 Abs. 2 Satz 3 TzBfG Gebrauch gemacht, liegt die Möglichkeit von solchen Mehrfachbefristungen auf der Hand. Arbeitnehmer, die immer nur in befristeten Arbeitsverhältnissen stehen, können nicht dieselbe Lebensplanung vornehmen, wie es andere Arbeitnehmer in unbefristeten Arbeitsverhältnissen können. Der Bestand eines Dauerarbeitsverhältnisses oder lediglich befristeten Arbeitsverhältnisses hat Auswirkungen auf die Familien- und sonstige persönliche Lebensplanung von Arbeitnehmern. Durch die geringe Einschränkung in § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG kann ein Beitrag dazu geleistet werden, die Möglichkeit von Befristungen wieder auf das erforderliche Maß zurückzuführen (LAG Niedersachsen 16. Februar 2016 – 9 Sa 376/15 – nv. juris).
Unter Anwendung vorstehender Grundsätze ist die in der Änderungsvereinbarung vom 9. April 2015 vereinbarte Verlängerung des sachgrundlos befristeten Arbeitsverhältnisses der Parteien rechtsunwirksam. Sie verstößt wegen der Beschäftigung der Klägerin vom 1. Februar 2005 bis zum 31. Dezember 2008 gegen das Vorbeschäftigungsverbot in § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG. Das Arbeitsverhältnis der Parteien gilt mithin nach § 16 Satz 1 TzBfG als auf unbestimmte Zeit geschlossen.
Rechtsanwalt Andreas Martin
Fachanwalt für Arbeitsrecht
Betriebsbedingte Kündigung in der Elternzeit.
Eine betriebsbedingte Kündigung während der Elternzeit einer Arbeitnehmerin kann selbst beim Wegfall des Arbeitsplatzes/ Beschäftigungsmöglichkeit unwirksam sein, so dass LAG Niedersachsen 14.10.15, 16 Sa 281/15.
Das Landesarbeitsgericht führt dazu aus, dass auch wenn im Kündigungszeitpunkt die Beschäftigungsmöglichkeit weggefallen ist, kann eine betriebsbedingte Kündigung gegenüber einer sich in Elternzeit befindlichen Arbeitnehmerin im Rahmen der Interessenabwägung sozial ungerechtfertigt sein und zwar vor allem dann, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass sich bis zum Ende der Elternzeit eine neue Beschäftigungsmöglichkeit ergeben könnte.
Kündigung während der Elternzeit
Zu beachten ist dabei, dass ein ordentliche Kündigung während der Elternzeit normalerweise ausgeschlossen ist. Eltern in der Elternzeit genießen nämlich gemäß § 18 BEEG einen Sonderkündigungsschutz.
Bundesarbeitsgericht
Nach § 18 Abs. 1 Satz 1 BEEG darf der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis ab dem Zeitpunkt, von dem an Elternzeit beantragt worden ist, höchstens aber acht Wochen vor Beginn der Elternzeit nicht kündigen (Vorwirkung). Darin liegt ein gesetzliches Verbot, das sich gegen die Kündigungserklärung selbst richtet. Eine Kündigung, die trotzdem erfolgt, ist nach § 134 BGB nichtig (so das Bundesarbeitsgericht Urteil 26. Juni 2008 – 2 AZR 23/07).
Rechtsanwalt Andreas Martin- Fachanwalt für Arbeitsrecht – Berlin
Arbeitnehmer fast Azubi an die Brust – Kündigung wegen sexueller Belästigung wirksam?
vor Kündigung in der Regel abmahnen
Wie ich bereits schon häufiger ausgeführt habe, kann auch eine Nebenpflichtverletzung eine Kündigung des Arbeitsverhältnisses rechtfertigen. Dabei gilt der Grundsatz, dass bei steuerbaren Verhalten des Arbeitnehmers in der Regel vor einer verhaltensbedingten Kündigung abzumahnen ist. Dem Arbeitnehmer soll nochmals sein vertragswidriges Verhalten vor Augen geführt werden und er soll darüber hinaus gewarnt werden für den Fall der Wiederholung.
Kündigung ohne vorherige Abmahnung
Bei schweren Pflichtverletzungen ist eine Kündigung auch ohne vorherige Abmahnung gerechtfertigt, insbesondere dann, wenn das Vertrauensverhältnis zum Arbeitgeber stark beschädigt ist, z.B. bei der Unterschlagung oder den Diebstahl von Firmenvermögen.
Sachverhalt: sexuelle Belästigung
Das Landesarbeitsgericht Niedersachsen (Urteil vom 6.12.2013 – 6 Sa 391/13) hatte über einen Fall sexueller Belästigung eines Arbeitnehmers gegenüber einer Auszubildenden zu entscheiden. Ein seit 1982 beschäftigter Arbeitnehmer (53 Jahre/ Krankenpfleger) fragte die Azubi im Frühstücksraum, ob ihre Oberweite „echt“ sei und er ihre Brüste berühren dürfe. Einen Tag später umarmte er die Azubi, versuchte diese zu küssen und fasste diese an deren Brust. Der Arbeitnehmer/ Kläger wurde angehört; später auch der Betriebsrat. Der Arbeitgeber sprach sodann dem Arbeitnehmer die außerordentliche und fristlose Kündigung aus, hilfsweise mit sozialer Auslauffrist. Dagegen wehrte sich der Kläger mittels Kündigungsschutzklage sowie Zahlungsklage.
Vor dem Arbeitsgericht Braunschweig (Urteil vom 15.8.2013 – 8 Ca 139/13) gewann der Arbeitnehmer. Der Arbeitgeber ging in Berufung und gewann in der der 2. Instanz vor dem LAG Niedersachens.
Die Entscheidung des LAG
Das LAG Niedersachen hält die Kündigung für wirksam und sah in dem Verhalten des Arbeitnehmers /Klägers eine sexuelle Belästigung nach § 3 Abs. 4 AGG und meinte, dass der Arbeitgeber hier ohne vorherige Abmahnung außerordentlich kündigen durfte.
Das LAG führte dazu aus:
Das Verhalten des Klägers am 15. und 16.10.2012 rechtfertigt „an sich“ eine außerordentliche Kündigung.
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a) Sexuelle Belästigungen im Sinne von § 3 Abs. 4 AG stellen nach § 7 Abs. 3 AGG eine Verletzung vertraglicher Pflichten dar. Sie sind „an sich“ als wichtiger Grund nach § 626 Abs. 1 BGB geeignet. Ob die sexuelle Belästigung im Einzelfall eine außerordentliche Kündigung rechtfertigt, ist abhängig von den Umständen des Einzelfalles, u.a. von ihrem Umfang und ihrer Intensität (vgl. BAG, 09.06.2011 – 2 AZR 323/10 – NZA 2011, 1342). Eine sexuelle Belästigung im Sinne von § 3 Abs. 4 AGG liegt vor, wenn ein unerwünschtes sexuell bestimmtes Verhalten, wozu unerwünschte sexuelle Handlungen und Aufforderungen zu diesen, sexuell bestimmte körperliche Berührungen, Bemerkungen sexuellen Inhalts sowie unerwünschtes Zeigen von pornografischen Darstellungen gehören, bezweckt oder bewirkt, dass die Würde der betreffenden Person verletzt wird, insbesondere wenn ein von Einschüchterungen, Anfeindungen, Erniedrigungen, Entmündigungen oder Beleidigungen gekennzeichnetes Umfeld geschaffen wird. Im Unterschied zu § 3 Abs. 3 AGG können danach auch einmalige sexuell bestimmte Verhaltensweisen den Tatbestand einer sexuellen Belästigung erfüllen. Das jeweilige Verhalten muss bewirken oder bezwecken, dass die Würde der betreffenden Person verletzt wird. Ausschlaggebend ist entweder das Ergebnis oder die Absicht. Dabei genügt für das Bewirken der bloße Eintritt der Belästigung. Gegenteilige Absichten oder Vorstellungen der für dieses Ergebnis aufgrund ihres Verhaltens verantwortlichen Person spielen keine Rolle. Auch vorsätzliches Verhalten ist nicht erforderlich. Ebenso wenig ist maßgeblich, ob die Betroffenen ihre ablehnende Einstellung zu den fraglichen Verhaltensweisen aktiv verdeutlicht haben. Entscheidend ist allein, ob die Unerwünschtheit der Verhaltensweise objektiv erkennbar war (vgl. nur BAG, 09.06.2011 – 2 AZR 323/10 – a.a.O., Hess. LAG, 27.02.2012 – 6 Sa 1357/11 – LAGE § 626 BGB, 2012 Nr. 37).………..
- Dabei handelt es sich ohne Zweifel um eine Bemerkung sexuellen Inhalts, die die Auszubildende auf ihre Brüste reduzierte und sie damit in ihrer Würde verletzte. Zwar hat Frau D. eingeräumt, dass sie auf eine entsprechende Frage von Seiten des Klägers erklärt habe, dass es ihr nicht unangenehm gewesen sei, über so was zu reden. Das AGG geht jedoch nicht davon aus, dass die Belästigte den Störer zunächst „abmahnen“ muss. Für den 53-jährigen Kläger war objektiv erkennbar, dass es eindeutig unangemessen ist, eine 18-jährige Auszubildende nach der Echtheit ihrer Oberweite zu fragen. Daran konnten für ihn keinerlei Zweifel bestehen. Die Vorfälle am 16.10.2012 stellen ebenfalls eindeutige sexuelle Belästigungen im Sinne von § 3 Abs. 4 AGG dar. Der Kläger hat an diesem Tag Frau D. nicht nur in den Arm genommen, sondern ihr mit einer Hand auf die Brust gefasst und versucht sie auf den Mund zu küssen. Eine versehentliche Berührung scheidet unter diesen Umständen eindeutig aus. Vielmehr ist der Kläger unter Missachtung des elementarsten Schamgefühls die Auszubildende körperlich angegangen. Bei der Berührung der Brust handelt es offensichtlich um einen Eingriff in die körperliche Intimsphäre, der immer objektiv als sexuelle bestimmt im Sinne von § 3 Abs. 4 AGG anzusehen ist. Die Brust stellt eine Tabuzone dar (vgl. LAG Mecklenburg-Vorpommern, 14.08.2012 – 5 Sa 324/11 – ARB RB 2012, 365). Gleiches gilt ohne Frage auch für den Kuss auf den Mund. Die Verbindung dieser Verhaltensweisen mit einem „in den Arm nehmen“, woraufhin die Entzugsmöglichkeiten für Frau D. reduziert waren, haben Frau D. zum Objekt des klägerischen Begehrens gemacht. Sie sind als unerwünschte sexuelle Handlungen zu qualifizieren, die die Auszubildende Frau D. in ihrer Würde verletzt haben. Es ist nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme und dem gesamten Inhalt der mündlichen Verhandlung nicht ersichtlich, dass Frau D. dem Kläger in irgendeiner Weise zu erkennen gegeben hätte, für Berührungen ihrer Brust bzw. Küsse auf ihren Mund offen zu sein. Selbst wenn man zu Gunsten des Klägers davon ausgehen wollte, dass er sich durch bestimmte Verhaltensweisen von Frau D. provoziert oder ermutigt fühlen durfte, rechtfertigt das seine Übergriffe nicht. Von einem Mann im Alter des Klägers, mit seiner einschlägigen Berufserfahrung ist ohne weiteres zu erwarten, dass er auf derartige „Provokationen“ von Auszubildenden am Arbeitsplatz nicht eingeht. Unmaßgeblich ist, wie er selbst sein Verhalten eingeschätzt hat oder verstanden wissen wollte.
- 3. Die außerordentliche Kündigung der Beklagten ist zudem unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls und bei Abwägung der beiderseitigen Interessen gerechtfertigt.
- a) Bei der Prüfung, ob dem Arbeitgeber eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers trotz Vorliegen einer erheblichen Pflichtverletzung jedenfalls bis zum Ablauf der fiktiven Kündigungsfrist am 30.06.2013 zumutbar ist, ist in einer Gesamtwürdigung das Interesse des Arbeitgebers an der sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen das Interesse des Arbeitnehmers an dessen Fortbestand abzuwägen. Es hat eine Bewertung des Einzelfalles unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu erfolgen. Die Umstände, anhand deren zu beurteilen ist, ob dem Arbeitgeber die Weiterbeschäftigung zumutbar ist oder nicht, lassen sich nicht abschließend festlegen. Zu berücksichtigen sind aber regelmäßig das Gewicht und die Auswirkung einer Vertragspflichtverletzung, der Grad des Verschuldens des Arbeitnehmers, eine mögliche Wiederholungsgefahr sowie die Dauer des Arbeitsverhältnisses und dessen störungsfreier Verlauf. Auch Unterhaltspflichten und der Familienstand können je nach Lage des Falles Bedeutung gewinnen. Eine außerordentliche Kündigung kommt nur in Betracht, wenn es keinen angemesseneren Weg gibt, das Arbeitsverhältnis fortzusetzen, weil dem Arbeitgeber sämtliche mildere Reaktionsmöglichkeiten unzumutbar sind. Bei Verstößen gegen das Benachteiligungsverbot des § 7 Abs. 1 AGG, zu denen auch sexuelle Belästigungen im Sinne von § 3 Abs. 4 AGG gehören, hat der Arbeitgeber im Einzelfall die geeigneten, erforderlichen und angemessenen arbeitsrechtlichen Maßnahmen wie Abmahnung, Umsetzung, Versetzung oder Kündigung zu ergreifen. Welche er hiervon als verhältnismäßig ansehen darf, hängt ebenfalls von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab. § 12 Abs. 3 AGG schränkt das Auswahlermessen jedoch insoweit ein, als der Arbeitgeber die Benachteiligung zu unterbinden hat. Geeignet im Sinne der Verhältnismäßigkeit sind daher nur solche Maßnahmen, von denen der Arbeitgeber annehmen darf, dass sie die Benachteiligung für die Zukunft abstellen, d. h. eine Wiederholung ausschließen. Eine Abmahnung bedarf es in Ansehung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nur dann nicht, wenn eine Verhaltensänderung in Zukunft selbst nach Abmahnung nicht zu erwarten ist oder es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass eine Hinnahme durch den Arbeitgeber offensichtlich – auch für den Arbeitnehmer erkennbar – ausgeschlossen ist (vgl. nur BAG, 09.06.2011 – 2 AZR 381/10 – NZA 2011, 1027).
Entscheidungen der Gerichte zu sexuellen Übergriffen am Arbeitsplatz
- Arbeitnehmer fast Azubi an die Brust – Kündigung wegen sexueller Belästigung wirksam?
- Bei tätlicher sexueller Belästigung droht auch bei langjähriger Beschäftigung die fristlose Kündigung!
- LAG Berlin – Verdachtskündigung wegen sexueller Belästigung einer Patientin
- sexuelle Belästigung „Hat dein Mann eine Gummiallergie?“ – Kündigung unwirksam!
- sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz durch Worte – außerordentliche Kündigung unrechtmäßig!
Rechtsanwalt Andreas Martin – Fachanwalt für Arbeitsrecht in Berlin