entscheidung
Verdachtskündigung wegen Arbeitszeitbetrug

Arbeitszeitbetrug und außerordentliche Verdachtskündigung
Ein möglicher Arbeitszeitbetrug kann grundsätzlich eine außerordentliche Kündigung rechtfertigen. Dies gilt selbst dann, wenn nur der dringende Tatverdacht besteht und die weiteren Voraussetzung einer Verdachtskündigung vorliegen, aber der Nachweis des Arbeitszeitbetruges selbst nicht möglich ist. Gerade bei einem möglichen Arbeitszeitbetrug spielt die Verdachtskündigung eine große Rolle.
Verdachtskündigung als eigenständige Kündigung
Die Verdachtskündigung basiert auf einen eigenständigen Kündigungsgrund, nämlich ein starken Tatverdacht und kann dazu führen, dass aufgrund dessen das Arbeitsverhältnis außerordentlich gekündigt werden kann.
Nachweis nicht erforderlich
Da allerdings ein Nachweis der Tat/Straftat bei der Verdachtskündigung nicht notwendig ist, sind die weiteren Voraussetzungen der Verdachtskündigung recht streng. Ansonsten könnte jeder Arbeitgeber ja bei jedem möglichen Tatverdacht das Arbeitsverhältnis durch Kündigung beenden. Dass dies nicht geht, ist nachvollziehbar.
strenge Voraussetzungen
Die Verdachtskündigung hat von daher strenge Voraussetzungen.
Die Voraussetzungen der Verdachtskündigung sind:
- Kündigung wird auf Verdacht einer strafbaren Handlung bzw. eines vertragswidrigen Verhaltens gestützt,
- dringender Tatverdacht liegt zum Zeitpunkt des Ausspruches der Kündigung vor,
- eine Anhörung des Arbeitnehmers vor Ausspruch der Kündigung wurde vorgenommen,
- Interessenabwägung zu Gunsten des Arbeitgebers
dringender Tatverdacht ist ausreichend
Der Unterschied zur Tatkündigung – diese ist der häufigste Fall der Kündigung – besteht darin, dass bei der Verdachtskündigung diese ausdrücklich auf einen Tatverdacht basiert. Die Verdachtskündigung basiert also nicht auf nachweisbare Tatsachen, sondern auf einen nachweisbaren dringenden Tatverdacht.
Anhörung des Arbeitnehmers
Wie oben bereits ausgeführt, ist zwingende Voraussetzung einer Verdachtskündigung die Anhörung des Arbeitnehmers. Der Hintergrund ist der, dass die Rechtsprechung eine Verdachtskündigung zulässt, weil das Vertrauen zwischen Arbeitnehmern Arbeitgeber aufgrund des nachweisbaren Verdachtes einer Straftat oder scheren Pflichtverletzung – schwerwiegend gestört ist, allerdings muss der Arbeitnehmer im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung einer jeden Kündigung die Möglichkeit bekommen sich dazu entsprechend zu äußern.
Sachverhaltsermittlung
Auch muss der Arbeitgeber grundsätzlich alle Möglichkeiten ausschöpfen, um den Sachverhalt aufzuklären. Der Hintergrund ist auch der, dass die Gefahr besteht, dass durch die Verdachtskündigung ein Unschuldiger betroffen ist. Der Arbeitgeber muss also sich um umfassende Aufklärung des Sachverhaltes bemühen, um das Risiko, dass letztendlich jemand betroffen wird, der zwar verdächtig ist, aber die Pflichtverletzung nicht begangen hat, gekündigt wird.
Arbeitszeitbetrug – Manipulation von Arbeitszeiterfassungssystemen
Eine Verdachtskündigung kommt oft in Betracht, wenn es um Arbeitszeitbetrug geht. Wichtig ist zu wissen, dass es hier also nicht darum geht, dass man den Arbeitszeitbetrug nachweisen kann, dann würde man eine Tatkündigung aussprechen, sondern dass der dringende Tatverdacht besteht, dass ein solcher Arbeitszeitbetrug vorgenommen wurde.
Urteil des LAG Mecklenburg-Vorpommern zur ordentlichen Verdachtskündigung
Das Landesarbeitsgericht Mecklenburg-Vorpommern (Urteil vom 28.03.2023 – AZ 5 Sa 128/22) hatte sich nun mit einen Fall zu befassen, wonach der dringende Tatverdacht einer bewusst manipulierten Arbeitszeiterfassung bestand und dieses entschied, dass eine personenbedingte Kündigung hier gerechtfertigt ist.
Sachverhalt
Dem lag folgender Sachverhalt zugrunde:
falsche Anmeldung bei Zeiterfassung
Ein Arbeitnehmer hatte sich-dies bei der Verdacht-von Zuhause online in das Zeiterfassungssystem des Arbeitgebers eingebucht, aber erst erheblich später im Dienstgebäude die Arbeit aufgenommen. Es lag also der Verdacht des Arbeitszeitbetruges nahe. Ein Nachweis war hier im Verfahren nicht möglich. Die ganze Sache kam raus, da eine Kollegin mehrfach versuchte den Arbeitnehmer im Büro aufzusuchen und das Büro aber verschlossen war, obwohl – laut dem Arbeitszeitsystem – der Arbeitnehmer im Büro war.
ordentliche Verdachtskündigung
Der Arbeitgeber sprach – nach Anhörung des Arbeitnehmers – eine ordentliche Verdachtskündigung aus und gewann vor dem Landesarbeitsgericht.
Ausführungen im Urteil des LAG
Das LAG Mecklenburg-Vorpommern führte dazu aus:
Die ordentliche Kündigung der Beklagten vom 09.02.2022 zum 30.09.2022 verstößt nicht gegen § 1 KSchG.
Der Verdacht einer Pflichtverletzung stellt gegenüber dem verhaltensbezogenen Vorwurf, der Arbeitnehmer habe die Pflichtverletzung tatsächlich begangen, einen eigenständigen Kündigungsgrund dar. Der Verdacht kann eine ordentliche Kündigung aus Gründen in der Person des Arbeitnehmers bedingen (BAG, Urteil vom 31. Januar 2019 – 2 AZR 426/18 – Rn. 20, juris = NZA 2019, 893). Der schwerwiegende Verdacht einer Pflichtverletzung kann zum Verlust der vertragsnotwendigen Vertrauenswürdigkeit des Arbeitnehmers und damit zu einem Eignungsmangel führen, der einem verständig und gerecht abwägenden Arbeitgeber die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unzumutbar macht (BAG, Urteil vom 31. Januar 2019 – 2 AZR 426/18 – Rn. 21, juris = NZA 2019, 893). Eine Verdachtskündigung ist eine personenbedingte Kündigung. Sie wird nicht deshalb zu einer Kündigung aus Gründen im Verhalten des Arbeitnehmers, weil dieser die entscheidungserheblichen Verdachtsmomente selbst gesetzt hat. Ein Arbeitnehmer begeht nicht dadurch eine eigenständige Pflichtverletzung, dass er sich durch ein für sich genommen pflichtwidriges Verhalten einer weitergehenden, schwerwiegenden Pflichtverletzung (nur) verdächtig macht (BAG, Urteil vom 31. Januar 2019 – 2 AZR 426/18 – Rn. 24, juris = NZA 2019, 893).
Eine Verdachtskündigung ist als ordentliche Kündigung sozial nur gerechtfertigt ist, wenn Tatsachen vorliegen, die zugleich eine außerordentliche, fristlose Kündigung gerechtfertigt hätten. Dies gilt zunächst für die Anforderungen an die Dringlichkeit des Verdachts als solchen. Der Verdacht muss auf konkreten, vom Kündigenden darzulegenden und ggf. zu beweisenden Tatsachen beruhen. Er muss ferner dringend sein. Es muss eine große Wahrscheinlichkeit dafür bestehen, dass er zutrifft. Die Umstände, die ihn begründen, dürfen nach allgemeiner Lebenserfahrung nicht ebenso gut durch ein Geschehen zu erklären sein, das eine Kündigung nicht zu rechtfertigen vermöchte. Bloße, auf mehr oder weniger haltbare Vermutungen gestützte Verdächtigungen reichen nicht aus (BAG, Urteil vom 31. Januar 2019 – 2 AZR 426/18 – Rn. 26 und 27, juris = NZA 2019, 893; LAG Köln, Urteil vom 23. Februar 2022 – 11 Sa 339/21 – Rn. 26, juris).
Der vorsätzliche Verstoß eines Arbeitnehmers gegen seine Verpflichtung, die abgeleistete, vom Arbeitgeber nur schwer zu kontrollierende Arbeitszeit korrekt zu dokumentieren, ist an sich geeignet, einen wichtigen Grund zur außerordentlichen Kündigung im Sinne von § 626 Abs. 1 BGB darzustellen. Dies gilt für einen vorsätzlichen Missbrauch einer Stempeluhr ebenso wie für das wissentliche und vorsätzlich falsche Ausstellen entsprechender Formulare. Dabei kommt es nicht entscheidend auf die strafrechtliche Würdigung an, sondern auf den mit der Pflichtverletzung verbundenen schweren Vertrauensbruch. Der Arbeitgeber muss auf eine korrekte Dokumentation der Arbeitszeit der am Gleitzeitmodell teilnehmenden Arbeitnehmer vertrauen können. Überträgt er den Nachweis der geleisteten Arbeitszeit den Arbeitnehmern selbst und füllt ein Arbeitnehmer die dafür zur Verfügung gestellten Formulare wissentlich und vorsätzlich falsch aus, so stellt dies in aller Regel einen schweren Vertrauensmissbrauch dar. Nicht anders zu bewerten ist es, wenn der Arbeitnehmer verpflichtet ist, die geleistete Arbeitszeit mit Hilfe des Arbeitsplatzrechners in einer elektronischen Zeiterfassung zu dokumentieren, und er hierbei vorsätzlich falsche Angaben macht. Der Arbeitnehmer verletzt damit in erheblicher Weise die sich aus § 241 Abs. 2 BGB ergebende Pflicht zur Rücksichtnahme (BAG, Urteil vom 13. Dezember 2018 – 2 AZR 370/18 – Rn. 17, juris = NZA 2019, 445; BAG, Urteil vom 26. September 2013 – 2 AZR 682/12 – Rn. 54, juris = ZTR 2014, 299; BAG, Urteil vom 9. Juni 2011 – 2 AZR 381/10 – Rn. 14, juris = NZA 2011, 1027).
LAG MV: https://www.landesrecht-mv.de/bsmv/document/JURE230046867
Anmerkung:
In der Praxis scheitern viele Kündigungen daran, dass man bestimmte Pflichtverletzungen nicht sicher nachweisen kann. Als Verdachtskündigung wären die Kündigungen aber oft wirksam. Dazu muss man aber den Arbeitnehmer vorher anhören und dann die Kündigung als Verdachtskündigung begründen (im Verfahren ist ausreichend).
Rechtsanwalt Andreas Martin – Fachanwalt für Arbeitsrecht
Betriebsbedingte Kündigung bei Betriebsschließung

Stilllegung eines Betriebs und Kündigung der Arbeitnehmer
Bei der Schließung eines Betriebs durch den Arbeitgeber werden in der Regel betriebsbedingte Kündigungen ausgesprochen. Es stellt sich dann die Frage für den Arbeitnehmer, wie hoch die Chancen sind hier sich erfolgreich mittels Kündigungsschutzklage gegen die Kündigung zu wehren.
betriebsbedingte Kündigung
Wichtig ist zu wissen, dass es hier keine schematische Lösung gibt. Die betriebsbedingte Kündigung ist auf ihre Wirksamkeit hin zu prüfen und es kommt immer auf den Einzelfall an.
Sozialauswahl entfällt bei Betriebsschließung
Wenn aber klar ist, dass tatsächlich der komplette Betrieb aufgegeben wird und auch kein Betriebsübergang vorliegt und alle Arbeitnehmer entlassen werden sollen und dies auch in irgendeiner Weise nachvollziehbar ist, spricht einiges dafür, dass ein betriebsbedingte Kündigung berechtigt ist. Insbesondere ist dabei zu beachten, dass bei der Entlassung der kompletten Belegschaft wegen Betriebschließung eine Sozialauswahl unter den Arbeitnehmern nicht mehr notwendig ist.
Kündigung aus dringenden betrieblichen Erfordernissen
Von einer betriebsbedingt Kündigung spricht man dann, wenn der Arbeitgeber aus dringenden betrieblichen Erfordernissen dem Arbeitnehmer das Arbeitsverhältnis kündigt.
Kündigungsschutzgesetz
Eine betriebsbedingte Kündigung ist dann vorgesehen, wenn das Kündigungsschutzgesetz Anwendung findet. Für das Kündigungsschutzgesetz ist Voraussetzung, dass im Betrieb in der Regel mehr als zehn Arbeitnehmer in Vollzeit abzüglich der Auszubildenden arbeiten und das Arbeitsverhältnis bereits länger als sechs Monate besteht. Dies sind die Voraussetzung für die Anwendbarkeit des Kündigungsschutzgesetzes.
Wenn die Voraussetzungen vorliegen, kann der Arbeitgeber nur aus drei Gründen kündigen. Er kann personenbedingt kündigen, verhaltensbedingt und betriebsbedingt. In der Praxis ist die betriebsbedingte Kündigung eine häufige Kündigungsart. Findet das Kündigungsschutzgesetz keine Anwendung braucht der Arbeitgeber keinen Grund für die Kündigung. Es sei denn, dass Sonderkündigungsschutz vorliegt.
Gründe für betriebsbedingte Kündigung
Der Arbeitgeber muss bei der betriebsbedingten Kündigung eine unternehmerische Entscheidung zum Beispiel zur Personalreduzierung nachweisen und darlegen und auch dringende betriebliche Erfordernisse, die zum Ausspruch der Kündigung geführt haben.
Wegfall des Arbeitsplatzes
Insbesondere muss der Arbeitgeber darlegen und im Zweifel nachweisen, inwieweit seine Entscheidung zur Personalreduzierung konkret zum Wegfall des Arbeitsplatzes des gekündigten Arbeitnehmers geführt hat. Der Wegfall der Beschäftigungsmöglichkeit für den betroffenen Arbeitnehmer kann auf unterschiedlichen Ursachen beruhen.
Umorganisation des Betriebs
In der Regel sind dies außerbetriebliche Ursachen, wie zum Beispiel der Auftragsrückgang oder aber auch innerbetriebliche Ursachen, wie zum Beispiel eine Umorganisation des Betriebs.
Im Unterschied zu Kurzarbeit, die von einem vorübergehenden Wegfall des Arbeitsplatzes ausgeht, muss bei einer betriebsbedingten Kündigung der Arbeitsplatz dauerhaft wegfallen.
Wie oben bereits dargelegt, ist die Besonderheit bei der Betriebschließung die, dass letztendlich alle Arbeitnehmer entlassen werden und der Betrieb stillgelegt wird.
Betriebsübergang
Zu unterscheiden ist die reine Betriebschließung von einen Betriebsübergang. Bei Betriebsübergang gehen die Arbeitsverhältnisse auf den neuen Erwerber über. Der Arbeitnehmer hat hier entsprechende Widerspruchsmöglichkeit und muss auch belehrt werden.
Massenentlassungsanzeige
Für den Fall das eben kein Betriebsübergang vorliegt, sondern tatsächlich der Betrieb stillgelegt werden soll, ist die Kündigung für den Arbeitgeber etwas einfacher. Er muss aber beachten, dass in der Regel eine Massenentlassungsanzeige nach § 17 KSchG notwendig ist.
Interessenausgleich und Sozialplan
Weiter wird der Arbeitgeber-wenn im Betriebs ein Betriebsrat vorhanden ist -mit diesen über ein Interessenausgleich/Sozialplan verhandeln. In der Regel ist beim Vorliegen eines Betriebsrates es fast immer so, dass die Arbeitnehmer über einen Sozialplan eine Abfindung wegen der betriebsbedingten Kündigung erhalten.
Gibt es keinen Betriebsrat, sieht die ganze Angelegenheit schon erheblich negativer für die Arbeitnehmer aus.
keine Sozialauswahl bei Betriebsschließung notwendig
Im Unterschied zur normalen Kündigung, ist bei der kompletten Betriebschließung eine Sozialauswahl nicht mehr erforderlich. Der Grund ist der, dass ja alle Arbeitnehmer entlassen werden.
Entscheidung des LAG Düsseldorf
Das Landesarbeitsgericht Düsseldorf (LAG Düsseldorf Urteil – 3 Sa 282/22, Pressemitteilung vom 21.2.2023) hatte nun über einen solchen Fall zu entscheiden. Hier sollte ein Bergbaubetrieb geschlossen werden und der Arbeitnehmer, der davon betroffen war, klagte gegen diese betriebsbedingte Kündigung und wandte auch ein, dass er letztendlich rechtsmissbräuchlich von Seiten des Arbeitgebers behandelt wird.
Das Landesarbeitsgericht sah dies anders und führte dazu aus:
In dem Rechtsgespräch wies heute der Vorsitzende der 3. Kammer des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf darauf hin, dass die Berufung des Klägers nur geringe Erfolgsaussichten hat. Es liege der klassische Grund für eine wirksame betriebsbedingte Kündigung vor, nämlich eine Betriebsschließung. Eine Sozialauswahl sei aufgrund der vollständigen Schließung nicht vorzunehmen. Formelle Fehler der Kündigung bestünden nicht. Es spreche zudem wenig für den vom Kläger mit der Berufung angeführten Rechtsmissbrauch. Die Beklagte sei aufgrund ihrer unternehmerischen Freiheit berechtigt gewesen, die organisatorische Entscheidung zu treffen, den „Servicebereich Rückzug“ abzuspalten. Dies sei zudem unter Beteiligung des Betriebsrats erfolgt, was indiziell gegen Rechtsmissbrauch spreche. Die Zuordnung der Beschäftigten zur Grubenwasserhaltung und dem „Servicebereich Rückzug“ sei nicht willkürlich, zumal der zuletzt genannte Betrieb nach der Abspaltung insgesamt zwei Jahre lang weiter bestand.
Auf der Basis dieser rechtlichen Einschätzung haben die Parteien sich auf eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses zum 31.12.2021 bei moderater Aufstockung der Sozialplanabfindung von 43.322,56 Euro brutto auf eine Gesamtabfindung von 55.000,00 brutto Euro verständigt.
https://www.justiz.nrw/JM/Presse/presse_weitere/PresseLArbGs/21_02_2023_/index.php
Anmerkung:
Letztendlich konnte der Arbeitnehmer doch noch etwas mit der Klage erreichen, da sein im Sozialplan vorgesehen Abfindung dann aufgrund eines Vergleichs vor dem LAG um zirka 12.000 Euro erhöht wurde.
Rechtsanwalt Andreas Martin – Fachanwalt für Arbeitsrecht
Fristlose Kündigung und rückständiger Arbeitslohn?

Annahmeverzugslohn und Kündigung
Der Annahmeverzug ist ein Problem, dass der Arbeitgeber im Kündigungsschutzverfahren hat. Verliert er das Verfahren, besteht die Gefahr, dass der Arbeitnehmer seine rückständigen Lohn geltend macht und damit auch Erfolg hat. Dies ist der Lohn ab dem Ende der Kündigungsfrist bzw. dem Zugang der außerordentlichen Kündigung bis zur Entscheidung durch das Arbeitsgericht in der Sache. Diese Zeitspanne kann mehrere Monate bis sogar mehrere Jahre betragen. Der Arbeitgeber muss dann zahlen, obwohl er keine Arbeitsleistung erhalten hat.
rückständiger Lohn = Risiko für Arbeitgeber
Dies stellt ein erhebliches finanzielles Risiko für den Arbeitgeber dar. Der Grund, weshalb oft Abfindungen im Kündigungsschutzverfahren an Arbeitnehmer ausgehandelt werden und von Arbeitgeberseite gezahlt werden, besteht zu einen erheblichen Teil auch deshalb, da der Arbeitgeber das Risiko des Annahmeverzuges eliminieren möchte.
Dazu wie folgt:
Wenn der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer das Arbeitsverhältnis kündigt, wird diese Kündigung wirksam, wenn der Arbeitnehmer nicht innerhalb von drei Wochen ab Zugang der Kündigung eine Kündigungsschutzklage beim Arbeitsgericht einreicht. Diese sogenannte Wirksamkeitsfiktion ist in § 7 des Kündigungsschutzgesetzes geregelt.
Wirksamkeit einer Kündigung und Kündigungsschutzklage
Klagt der Arbeitnehmer rechtzeitig, dann streitet man sich vor dem Arbeitsgericht um die Wirksamkeit der Kündigung. Der erste Termin beim Arbeitsgericht ist der sogenannte Gütetermin. Im Gütetermin erfragt das Gericht den Sachverhalt und versucht eine Einigung zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber herbeizuführen. Diese Einigung ist im Interesse des Gerichts, da der Richter das Verfahren dann recht schnell ohne großen Aufwand beenden kann. Für den Arbeitnehmer hat der Gütetermin eine besondere Bedeutung, denn hier zeigt sich, ob er gegebenenfalls – und dies ist oft das Ziel der Arbeitnehmer, die gegen eine Kündigung des Arbeitgebers klagen – eine angemessene Abfindung aushandeln kann. In den meisten Fällen ist dies im Gütetermin möglich und wird auch entsprechend durch einen Abfindungsvergleich protokolliert.
Gütetermin scheitert vor dem Arbeitsgericht
Gibt es keine Einigung, dann findet einige Monate später der sogenannte Kammertermin statt. Vor dem Kammertermin setzt das Gericht den beteiligten Parteien Fristen um auf die jeweiligen Schriftsätze der Gegenseite zu erwidern. Von den Arbeitsgerichten gibt es recht wenig Beweisaufnahmen, sodass oft bereits nach dem Kammertermin ein Urteil erfolgt.
Risiko des Annahmeverzugs
Da zwischen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses und der rechtskräftigen Entscheidung des Gerichts (dies kann auch die 2. oder erst die 3. Instanz sein) aber meist mehrere Monate liegen, in denen der Arbeitnehmer oft arbeitslos ist und keiner Tätigkeit nachgeht, stellt sich für den Arbeitgeber das Problem, dass er gegebenenfalls den Lohn nachzahlen muss. Dies ist dann der Fall, wenn der Arbeitnehmer das Kündigungsschutzverfahren gewinnt. Zwar darf der Arbeitnehmer nicht böswillig einen zwischen Verdienst unterlassen, dies heißt aber nicht dass er jede Arbeit annehmen muss.
gesetzliche Regelung
Geregelt ist der Annahmeverzugslohn in § 615 BGB. Die Norm lautet:
§ 615 Vergütung bei Annahmeverzug und bei Betriebsrisiko
Kommt der Dienstberechtigte mit der Annahme der Dienste in Verzug, so kann der Verpflichtete für die infolge des Verzugs nicht geleisteten Dienste die vereinbarte Vergütung verlangen, ohne zur Nachleistung verpflichtet zu sein. Er muss sich jedoch den Wert desjenigen anrechnen lassen, was er infolge des Unterbleibens der Dienstleistung erspart oder durch anderweitige Verwendung seiner Dienste erwirbt oder zu erwerben böswillig unterlässt. Die Sätze 1 und 2 gelten entsprechend in den Fällen, in denen der Arbeitgeber das Risiko des Arbeitsausfalls trägt.
§ 615 BGB
Prozessrisiko
Um das sogenannte Prozessrisiko-also das Risiko, dass der Arbeitgeber verliert und dann den Lohn nachzahlen muss-zu minimieren, bieten manche Arbeitgeberanwälte dann den Arbeitnehmern eine sogenannte Prozessbeschäftigung an. Die Prozessbeschäftigung ist ein Vertrag über die Beschäftigung des Arbeitnehmers zu den bisherigen Bedingung befristet für die Dauer des Kündigungsrechtsstreits.
Prozessbeschäftigung bei fristloser Kündigung
Das Bundesarbeitsgericht hatte sich nun mit dem Fall zu beschäftigen, bei dem der Arbeitgeber fristlos und außerordentlich das Arbeitsverhältnis kündigte und sodann der Rechtsanwalt des Arbeitgebers dem Arbeitnehmer für das Kündigungsschutzverfahren eine sogenannte Prozess Beschäftigung angeboten hat. Der Arbeitnehmer gewann später das Verfahren und wollte seinen rückständigen Lohn vom Arbeitgeber erhalten. Der Arbeitgeber verwies darauf, dass er dem Arbeitnehmer eine Beschäftigung angeboten hat und diese es böswillig unterlassen hat der Beschäftigung nachzugehen. Nach der Ansicht des Arbeitgebers bestand also kein Anspruch auf den sogenannten Annahmeverzugslohn.
außerordentliche Kündigung und Prozessbeschäftigung widersprechen sich
Dies sei sah Bundesarbeitsgericht für den Fall der fristlosen Kündigung anders. Nach dem BAG ist es widersprüchlich, wenn der Arbeitgeber sich einerseits im Kündigungsschutzprozess darauf beruft, dass das Arbeitsverhältnis durch eine außerordentliche Kündigung aus wichtigem Grund beendet ist und es dem Arbeitgeber nicht mehr zumutbar ist den Arbeitnehmer weiter zu beschäftigen, noch nicht einmal ist zum Ende der ordentlichen Kündigungsfrist bei der ordentlichen Kündigung und auf der anderen Seite dann den Arbeitnehmer aber doch eine Beschäftigung anbietet.
BAG-Entscheidung
Das Bundesarbeitsgericht (BAG, Urteil vom 29.3.23 – 5 AZR 255/22 – Pressemitteilung vom 29.3.23) führte dazu in seiner Pressemitteilung folgendes aus:
Kündigt der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis fristlos, weil er meint, die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses sei ihm nicht zuzumuten, bietet aber gleichzeitig dem Arbeitnehmer „zur Vermeidung von Annahmeverzug“ die Weiterbeschäftigung zu unveränderten Bedingungen während des Kündigungsschutzprozesses an, verhält er sich widersprüchlich. In einem solchen Fall spricht eine tatsächliche Vermutung dafür, dass das Beschäftigungsangebot nicht ernst gemeint ist. Diese Vermutung kann durch die Begründung der Kündigung zur Gewissheit oder durch entsprechende Darlegungen des Arbeitgebers entkräftet werden.
Die vom Fünften Senat des Bundesarbeitsgerichts nachträglich zugelassene Revision des Klägers war erfolgreich. Die Beklagte befand sich aufgrund ihrer unwirksamen fristlosen Kündigungen im Annahmeverzug, ohne dass es eines Arbeitsangebots des Klägers bedurft hätte. Weil die Beklagte selbst davon ausging, eine Weiterbeschäftigung des Klägers sei ihr nicht zuzumuten, spricht wegen ihres widersprüchlichen Verhaltens eine tatsächliche Vermutung dafür, dass sie dem Kläger kein ernstgemeintes Angebot zu einer Prozessbeschäftigung unterbreitete. Die abweichende Beurteilung durch das Landesarbeitsgericht beruht auf einer nur selektiven Berücksichtigung des Parteivortrags und ist schon deshalb nicht vertretbar. Darüber hinaus lässt die Ablehnung eines solchen „Angebots“ nicht auf einen fehlenden Leistungswillen des Klägers iSd. § 297 BGB schließen. Es käme lediglich in Betracht, dass er sich nach § 11 Nr. 2 KSchG böswillig unterlassenen Verdienst anrechnen lassen müsste. Das schied im Streitfall jedoch aus, weil dem Kläger aufgrund der gegen ihn im Rahmen der Kündigungen erhobenen Vorwürfe und der Herabwürdigung seiner Person eine Prozessbeschäftigung bei der Beklagten nicht zuzumuten war. Dem steht nicht entgegen, dass der Kläger im Kündigungsschutzprozess vorläufige Weiterbeschäftigung beantragt hat. Dieser Antrag war auf die Prozessbeschäftigung nach festgestellter Unwirksamkeit der Kündigungen gerichtet. Nur wenn der Kläger in einem solchen Fall die Weiterbeschäftigung abgelehnt hätte, hätte er sich seinerseits widersprüchlich verhalten. Hier ging es indes um die Weiterbeschäftigung in der Zeit bis zur erstinstanzlichen Entscheidung. Es macht einen Unterschied, ob der Arbeitnehmer trotz der gegen ihn im Rahmen einer verhaltensbedingten Kündigung erhobenen (gravierenden) Vorwürfe weiterarbeiten soll oder er nach erstinstanzlichem Obsiegen im Kündigungsschutzprozess gleichsam „rehabilitiert“ in den Betrieb zurückkehren kann.
BAG- Pressemitteilung vom 29.03.202 – Nr. 17/23
Anmerkung:
Die außerordentliche Kündigung ist für den Arbeitgeber schwer durchsetzbar. Auf jeden Fall sollte hilfsweise ordentlich gekündigt werden. Eine weitere Möglichkeit um das Annahmeverzugsrisiko für den Arbeitgeber zu begrenzen besteht darin, dass man dem Arbeitnehmer im Kündigungsschutzverfahren regelmäßig Angebote (freie Stellen) anderer Arbeitgeber übermittelt mit der Aufforderung sich darauf zu bewerben. Eine Garantie, dass dies zum Erfolg führt, gibt es aber nicht.
Rechtsanwalt Andreas Martin – Fachanwalt für Arbeitsrecht
Pflicht zur Arbeitszeiterfassung durch den Arbeitgeber?

Arbeitszeit und Pflichten des Arbeitgebers
Es bestehen immer noch Unsicherheiten, ob der Arbeitgeber grundsätzlich verpflichtet ist die Arbeitszeiten seiner Arbeitnehmer zu erfassen und aufzuzeichnen. Diese Frage soll hier beantwortet werden.
Was ist Arbeitszeit?
Arbeitszeit ist die Zeit vom Beginn bis zum Ende der Arbeit abzüglich der Ruhepausen.
Wo ist die gesetzliche Grundlage geregelt?
Geregelt ist die Arbeitszeit und die entsprechenden Vorgaben zur Höchstarbeitszeit im Arbeitszeitgesetz.
Entscheidung des EuGH zur Arbeitszeiterfassung
Ich hatte hier schon berichtet, dass der Europäische Gerichtshof deutlich gemacht hat, dass grundsätzlich nach der Arbeitszeitrichtlinie der EU die einzelnen Mitgliedstaaten verpflichtet sind dafür zu sorgen, dass Arbeitgeber die Arbeitszeit der Arbeitnehmer erfassen. Eine entsprechende Umsetzung in das innerdeutsche Recht ist aber bis heute nicht erfolgt.
Entscheidung des BAG zur Pflicht zur Erfassung der Arbeitszeit
Ein Paukenschlag war von daher die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichtes vom 13. September 2022 (Beschluss vom 13.9.2022, Aktenzeichen 1 ABR 22/21).
gesetzliche Grundlage = § § 3 Abs. 2 Nummer 1 des Arbeitsschutzgesetzes
Das Bundesarbeitsgericht führte aus, dass es schon lange eine gesetzliche Regelung gibt und zwar § 3 Abs. 2 Nummer 1 des Arbeitsschutzgesetzes, wonach Arbeitgeber verpflichtet sind die Arbeitszeit der Arbeitnehmer zu erfassen. Die Problematik daran war die, dass niemand davon ausgegangen ist, dass bereits eine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung durch den Arbeitgeber bestand. Die Regelung, auf die das Bundesarbeitsgericht hier verwiesen hat, ist äußerst ungenau und aus dieser kann man zumindest durch einfaches Lesen ohne Auslegung nicht ohne weiteres die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung ableiten.
Zitat
§ 3 Grundpflichten des Arbeitgebers – Arbeitsschutzgesetz
(1) Der Arbeitgeber ist verpflichtet, die erforderlichen Maßnahmen des Arbeitsschutzes unter Berücksichtigung der Umstände zu treffen, die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten bei der Arbeit beeinflussen. Er hat die Maßnahmen auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen und erforderlichenfalls sich ändernden Gegebenheiten anzupassen. Dabei hat er eine Verbesserung von Sicherheit und Gesundheitsschutz der Beschäftigten anzustreben.
(2) Zur Planung und Durchführung der Maßnahmen nach Absatz 1 hat der Arbeitgeber unter Berücksichtigung der Art der Tätigkeiten und der Zahl der Beschäftigten
für eine geeignete Organisation zu sorgen und die erforderlichen Mittel bereitzustellen sowie.
Vorkehrungen zu treffen, daß die Maßnahmen erforderlichenfalls bei allen Tätigkeiten und eingebunden in die betrieblichen Führungsstrukturen beachtet werden und die Beschäftigten ihren Mitwirkungspflichten nachkommen können.
(3) Kosten für Maßnahmen nach diesem Gesetz darf der Arbeitgeber nicht den Beschäftigten auferlegen.
Pflicht zur Arbeitszeitaufzeichnung besteht
Dies kann aber letztendlich alles dahinstehen. Das Bundesarbeitsgericht hat diese Pflicht zur Arbeitszeiterfassung aus dieser Norm abgeleitet und von daher sind Arbeitgeber grundsätzlich verpflichtet die Arbeitszeit ihrer Arbeitnehmer zu erfassen. Dies heißt, dass der Beginn und das Ende der Arbeitszeit-einschließlich der Pausen-zu erfassen sind.
keine Vorgabe, wie die Erfassung erfolgen soll
Das Bundesarbeitsgericht hat nicht geregelt, wie diese Erfassung auszusehen hat. Es hat insbesondere nicht den Arbeitgebern vorgeschrieben, dass diese besondere-zum Beispiel elektronische-Arbeitszeiterfassungsysteme einsetzen müssen. Dies heißt, dass es dem Arbeitgeber freisteht, wie er die Arbeitszeit letztendlich im Betrieb aufzeichnet.
per Hand oder elektronisch
Dies kann durch elektronische Arbeitszeiterfassungsysteme, wie zum Beispiel elektronische Steckkarten oder Login am Computer, erfolgen aber auch durch Aufzeichnungen zum Beispiel das Eintragen in einen entsprechenden Arbeitszeitkalender erfolgen.
Übertragung auf Arbeitnehmer möglich
Der Arbeitgeber ist sogar berechtigt die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung auf den Arbeitnehmer zu delegieren. Dies heißt, dass dann der Arbeitnehmer verpflichtet ist seine Arbeitszeiten zu erfassen. Damit ist der Arbeitgeber aber nicht komplett von seiner Verpflichtung befreit, sondern seine Aufzeichnungspflicht wandelt sich um in eine Überwachungspflicht. Der Arbeitgeber muss letztendlich auch überwachen, ob tatsächlich vom Arbeitnehmer die Aufzeichnung der Arbeitszeit korrekt erfolgt.
Vertrauensarbeitszeit in Home Office
Dies gilt auch für den Fall der sogenannten Vertrauensarbeitszeit, wie zum Beispiel im Home Office. Auch hier ist die Arbeitszeit grundsätzlich zu erfassen. Das Bundesarbeitsgericht differenziert hier nicht zwischen Arbeitnehmern, die im Betrieb anwesend sind und Arbeitnehmern, die zum Beispiel mobil arbeiten. Bei allen Arbeitnehmergruppen hat eine Arbeitszeiterfassung zu erfolgen.
hohe Bußgelder drohen
Arbeitgeber, die sich nicht an diese Vorgaben halten, riskieren, dass sie entsprechend von Arbeitsschutzbehörden ein hohes Bußgeld (§ 25 des Arbeitsschutzgesetzes) erhalten.
Beweislastumkehr in Arbeitsgerichtsprozessen?
Darüber hinaus können sich in Prozessen ergeben, dass eine Beweislastumkehr in Bezug auf erbrachte Arbeitszeiten von den Arbeitsgerichten angenommen wird. Dies ist aber zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht sicher. Entscheidung dazu-zumindest von höchstrichterlicher Stelle-gibt es dazu noch nicht.
Rechtsanwalt Andreas Martin – Fachanwalt für Arbeitsrecht
Bereitschaftszeit bei Polizisten – Arbeitszeit?

Bereithaltung im Polizeidienst und Arbeitszeit
Bereitschaftszeiten bei der Polizei kommen nicht selten vor. Wie auch beim normalen Arbeitnehmer stellt sich dann die Frage, ob solche Zeiten eine vergütungspflichtige Arbeitszeit darstellen oder als Freizeit gewertet werden.
Verwaltungsgerichte entscheiden beim Polizeibeamten
Bei Streitigkeiten zwischen Polizisten und ihren Dienstherrn entscheiden zwar nicht die Arbeitsgerichte, sondern die Verwaltungsgerichte, allerdings ist die Rechtsgrundlage hier ebenfalls die Arbeitszeitrichtlinie (RL 2003/88/EG) der Europäischen Union.
Rufbereitschaft und Bereitschaftszeit
Ob Bereitschaftszeiten bzw. Rufbereitschaft eine vergütungspflichtige Arbeitszeit darstellen, dazu gibt es bereits Entscheidungen-im arbeitsrechtlichen Bereich-des Bundesarbeitsgerichts. Entscheidend ist immer welche Einschränkungen für den Arbeitnehmer damit verbunden sind. In der Regel ist diese Arbeitszeit, wenn sich der Arbeitnehmer an einen bestimmten Ort aufhalten muss.
Auslegung der Einschränkungen der Bereitschaftszeit
Oft gibt es Tarifverträge, die dann abgestuft eine Zahlung derartiger Zeiten vorsehen. Wenn es aber keinen Tarifvertrag gibt, dann kommt es darauf an, ob diese Zeiten tatsächlich den Arbeitnehmer so stark einschränken, dass vergütungspflichtige Arbeitszeit vorliegt. Dazu hatte ich bereits mehrere Artikel geschrieben.
vergütungspflichtige Arbeitszeit
Hier geht es nun um die Frage, ob die Bereithaltungszeiten bei der Polizei vergütungspflichtige Arbeitszeit sind oder nicht.
Bundesverwaltungsgericht
Das Bundesverwaltungsgericht hat nun diesbezüglich eine Entscheidung getroffen.
Sachverhalt
Der Kläger-ein Polizist-wollte rückwirkend ab Juni 2012, die in Abzug gebrachten Pausenzeiten, als Arbeitszeit bezahlt bekommen. Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg (Urteil vom 27.05.2021 – Az 10 B 17.18) gab dem Kläger teilweise recht und verurteilte den Dienstherrn dazu eine finanzielle Abgeltung für nicht auf die Arbeitszeit angerechnet Pausen an 216 Tagen in der Zeit vom April 2015 bis Juni 2015 in Höhe von brutto 3124,34 € zu zahlen.
Oberverwaltungsgericht Berlin
Nach dem Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg stand dem Kläger ein beamtenrechtliche Ausgleichsanspruch wegen rechtswidriger Zuvielarbeit zu. Nach dem OVG hatte der Dienstherr den Kläger regelmäßig mehr als 41 Stunden pro Woche beschäftigt, also über die regelmäßige Arbeitszeit hinaus. Das Oberverwaltungsgericht stellte klar, dass die Pausen unter Bereithaltungspflicht nach dem unionsrechtlichen Begriffsverständnis Arbeitszeit darstellen, die zu vergüten ist.
Revision
Gegen die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichtes wehrte sich der Dienstherr zum Bundesverwaltungsgericht mit seiner Revision.
Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts
Das Bundesverwaltungsgericht entschied, dass die Revision des Dienstherrn unbegründet ist.
Nach dem Bundesverwaltungsgericht (Urteil vom 13.10.2022- 2 C 7.21) kann man nicht pauschal die Bereithaltungszeit als Arbeitszeit einstufen, sondern es kommt immer auf den Einzelfall an. Insbesondere kommt es darauf an ob mit der Bereithaltungszeit auch Einschränkungen verbunden sind, die den Arbeitnehmer in seinem Freizeitverhalten stark beschränken. Je stärker die Einschränkungen sind, umso mehr spricht für eine vergütungspflichtige Arbeitszeit.
Insbesondere hat das Bundesverwaltungsgericht folgendes ausgeführt:
Die zur Anerkennung des beamtenrechtlichen Ausgleichsanspruchs führende Annahme des Oberverwaltungsgerichts, Pausen unter Bereithaltungspflicht stellten unionsrechtlich Arbeitszeit dar, steht in ihrer Absolutheit nicht mit Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (RL 2003/88/EG, Arbeitszeitrichtlinie – ABl. L 299 S. 9) in Einklang (1.). Auch die weitere Annahme des Berufungsgerichts, der Kläger könne einen Ausgleich für die Inanspruchnahme über die nationalrechtlichen Arbeitszeitvorgaben hinaus auf der Grundlage des unionsrechtlichen Haftungsanspruchs verlangen, ist mit den unionsrechtlichen Haftungsgrundsätzen nicht vereinbar (2.). Das Berufungsurteil stellt sich aber aus anderen Gründen i. S. d. § 144 Abs. 4 VwGO im Ergebnis als richtig dar (3.).
Das Berufungsgericht geht im Ausgangspunkt zutreffend davon aus, dass die Begriffe Arbeitszeit i. S. d. Art. 2 Nr. 1 RL 2003/88/EG und Ruhezeit i. S. d. Art. 2 Nr. 2 RL 2003/88/EG einander ausschließen; Zwischenkategorien wie „Bereitschaftszeit“ oder „Ruhepause“ sind in der Richtlinie nicht vorgesehen (EuGH, Urteile vom 3. Oktober 2000 – C-303/98, Simap – NZA 2000, 1227 Rn. 47, vom 21. Februar 2018 – C-518/15, Matzak – NJW 2018, 1073 Rn. 55 und vom 9. März 2021 – C-344/19, Radiotelevizija Slovenija – NZA 2021, 485 Rn. 29). Die einem Arbeitnehmer während seiner täglichen Arbeitszeit gewährte Ruhepause bei gleichzeitig geforderter Bereitschaft ist entweder als „Arbeitszeit“ oder als „Ruhezeit“ einzuordnen. Die „bloße“ Pflicht des Arbeitnehmers, sich während der Pausen zur Wiederaufnahme der Arbeit bereitzuhalten, führt entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts aber nicht automatisch dazu, die Pausenzeit als Arbeitszeit i. S. d. Art. 2 Nr. 1 RL 2003/88/EG zu qualifizieren.
Bereitschaftszeit ist grundsätzlich als Arbeitszeit i. S. d. Art. 2 Nr. 1 RL 2003/88/EG einzuordnen, wenn sich der Arbeitnehmer an einem vom Arbeitgeber bestimmten Ort aufhalten und diesem zur Verfügung stehen muss, um gegebenenfalls sofort die geeigneten Leistungen erbringen zu können (EuGH, Urteile vom 9. September 2003 – C-151/02, Jaeger – Slg. 2003, I-8415 Rn. 63, vom 1. Dezember 2005 – C-14/04, Dellas – Slg. 2005, I-10279 Rn. 48 und vom 21. Februar 2018 – C-518/15, Matzak – NJW 2018, 1073 Rn. 59). Fehlt es aber an einer Verpflichtung, am Arbeitsplatz als dem vom Arbeitgeber bestimmten Ort zu bleiben, kann eine Bereitschaftszeit nicht automatisch als Arbeitszeit i. S. d. RL 2003/88/EG eingestuft werden. Die nationalen Gerichte haben in diesem Fall bei Gesamtwürdigung aller relevanten Umstände zu prüfen, ob sich eine solche Einstufung daraus ergibt, dass dem Arbeitnehmer Einschränkungen von solcher Art auferlegt werden, dass sie seine Möglichkeit, während der Bereitschaftszeiten die Zeit, in der seine beruflichen Leistungen nicht in Anspruch genommen werden, frei zu gestalten und sich seinen eigenen Interessen zu widmen, objektiv gesehen ganz erheblich beeinträchtigen (EuGH, Urteile vom 9. März 2021 – C-344/19, Radiotelevizija Slovenija – NZA 2021, 485 Rn. 37, 45 und – C-580/19, Stadt Offenbach am Main – NZA 2021, 489 Rn. 45). Dies ist grundsätzlich anzunehmen, wenn die dem Arbeitnehmer auferlegte Frist für die Aufnahme seiner Arbeit nur wenige Minuten beträgt und er deshalb in der Praxis weitgehend davon abgehalten wird, irgendeine auch nur kurzzeitige Freizeitaktivität zu planen. Dabei ist die Auswirkung einer solchen Reaktionsfrist im Anschluss an eine konkrete Würdigung zu beurteilen, bei der gegebenenfalls die übrigen dem Arbeitnehmer auferlegten Einschränkungen sowie die ihm während seiner Bereitschaftszeit gewährten Erleichterungen zu berücksichtigen sind (EuGH, Urteil vom 9. März 2021 – C-344/19, Radiotelevizija Slovenija – NZA 2021, 485 Rn. 48 f.).
Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe ist nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 9. September 2021 – C-107/19, Dopravní podnik hl. m. Prahy – (NZA 2021, 1395 Rn. 37, 39 ff.) Art. 2 Nr. 1 RL 2003/88/EG in Bezug auf „Bereitschaft“ in Pausenzeiten dahin auszulegen, dass die einem Arbeitnehmer während seiner täglichen Arbeitszeit gewährte Ruhepause als Arbeitszeit im Sinne dieser Bestimmung zu qualifizieren ist, wenn sich aus einer Gesamtwürdigung der relevanten Umstände des Einzelfalls ergibt, dass die dem Arbeitnehmer während dieser Ruhepause auferlegten Einschränkungen, die sich aus der Notwendigkeit ergeben, einsatzbereit zu sein, von solcher Art sind, dass sie objektiv gesehen ganz erheblich seine Möglichkeit beschränken, sich in der Pause zu entspannen und Tätigkeiten nach Wahl zu widmen. Zu den zu berücksichtigenden Umständen des Einzelfalls gehören die Auswirkung der Reaktionsfrist, die Häufigkeit, aber auch die Unvorhersehbarkeit möglicher Unterbrechungen der Ruhepausen, die eine zusätzliche beschränkende Wirkung auf die Möglichkeit des Arbeitnehmers haben kann, die Zeit frei zu gestalten. Die sich daraus ergebende Ungewissheit kann ihn in Daueralarmbereitschaft versetzen. Die den Ruhepausen immanenten Einschränkungen in räumlicher und zeitlicher Hinsicht sind bei der Gesamtwürdigung dagegen außer Acht zu lassen.
Urteil vom 13.10.2022 –
BVerwG 2 C 7.21
Anmerkung:
Eine interessante Entscheidung. Es kommt demnach immer auf die Einzelfall und die konkreten Einschränkungen beim Beamten in der Bereitschaftszeit an.
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Rechtsanwalt Andreas Martin – Fachanwalt für Arbeitsrecht
Rechtswidrige Kurzarbeit – muss der Arbeitgeber den vollen Lohn zahlen?

Gerade in der Corona-Pandemie was oft so, dass Arbeitgeber aus betriebsbedingten Gründen versucht haben, so schnell wie möglich Kurzarbeit anzuordnen.
Vereinbarung über Kurzarbeit
In der Regel ist dafür eine Vereinbarung mit dem Arbeitnehmer erforderlich. Eine solche Vereinbarung muss der Arbeitgeber mit allen Arbeitnehmern (einzeln) schließen. Diese sind nicht verpflichtet zuzustimmen.
Kurzarbeiterklausel im Arbeitsvertrag
In manchen Arbeitsverträgen fanden sich aber auch Klauseln, wonach der Arbeitgeber berechtigt ist die Kurzarbeit anzuordnen und der Arbeitnehmer im Arbeitsvertrag dazu bereits seine Zustimmung erteilt hat. Diese Klauseln werden auf ihre Wirksamkeit von den Arbeitsgerichten wie allgemeine Geschäftsbedingungen überprüft.
Arbeitsgericht Stuttgart und Zahlung des vollen Arbeitslohnes
Das Arbeitsgericht Stuttgart (Urteil vom 6.12.2022, 25 Ca 7031/21) hat nun entschieden, dass selbst wenn eine solche Klausel wirksam ist, aber trotzdem die Kurzarbeit rechtswidrig angeordnet wurde, der Arbeitnehmer nicht automatisch einen vollen Lohnanspruch hat.
unwirksame Anordnung von Kurzarbeit „Null“
Das Problem ist, dass bei Kurzarbeit oft sogenannte Kurzarbeit null angeordnet wurde. Der Arbeitnehmer muss dann nicht arbeiten, bekommt aber nur einen Teil seines Lohnes. Arbeitnehmer, die arbeitswillig sind werden faktisch gezwungen auf einen Teil ihres Lohnes zu verzichten. Wenn die Kurzarbeitsanordnung nun unwirksam ist, könnte man auf die Idee kommen, dass der Arbeitgeber dann den vollen Lohn schuldet, da es seine Schuld ist, dass der Arbeitnehmer seine Arbeitsleistung nicht erbringen konnte.
Lohn bei unwirksamer Anordnung von Kurzarbeit
Hier ist aber zu beachten, dass es den Grundsatz im Arbeitsrecht gibt, wonach Arbeitnehmer ohne Arbeit keinen Lohn bekommen („kein Lohn ohne Arbeit“). Der Arbeitgeber ist nur verpflichtet den Lohn zu zahlen, wenn er sich im Annahmeverzug befindet. Der sogenannte Annahmeverzugslohn setzt aber voraus, dass der Arbeitnehmer seine Arbeitskraft angeboten hat. In der Regel ist das tatsächliche Anbieten der Arbeitskraft (also vor Ort) erforderlich. Ein wörtliches Angebot oder ein Angebot über soziale Medien reicht im Normalfall hierfür nicht aus.
Entscheidung des Arbeitsgericht Stuttgart
Das Arbeitsgericht Stuttgart hatte sich nun mit dem Fall zu beschäftigen, wonach der Arbeitgeber die Kurzarbeit rechtswidrig angeordnet hatte und der Arbeitnehmer nun nachträglich seinen vollen Lohn eingeklagt hat. Hierbei ging es hauptsächlich um die Frage, inwieweit der Arbeitnehmer tatsächlich seine Arbeitskraft hätte anbieten müssen.
Begründung der Ablehnung des Lohnanspruchs
Das Arbeitsgericht führte dazu aus:
Der Vergütungsanspruch des Klägers gemäß § 611a Abs. 2 BGB ist vorliegend nicht aufgrund von § 615 Satz 1 BGB aufrechterhalten worden, (BAG, Urteil vom 19.10.2000 – 8 AZR 20/00, NZA 2001, 598) da es an einem Angebot des Klägers fehlt. Ein solches wäre vorliegend allerdings zumindest in der Form des wörtlichen Angebots nötig gewesen, da der Kläger unstreitig in den Monaten April 2020 bis August 2021 lediglich am 17.09.2020 und im Zeitraum vom 29.06.2021 – 02.07.2021 seine Arbeitsleistung erbracht hat und die Beklagte zu Ziffer 1.) den korrespondierenden Arbeitslohn bezüglich dieser Tage auch zur Auszahlung gebracht hat
…
(2) Ausgehend von diesen Grundsätzen besteht auch beim Vorliegen einer rechtswidrigen Anordnung von Kurzarbeit die Obliegenheit des Arbeitnehmers, gegen diese Anordnung zumindest zu protestieren (BAG, Urteil vom 18.11.2015 – 5 AZR 491/14, NZA 2016, 565 Rn. 23; BAG, Urteil vom 18.11.2015 – 5 AZR 814/14, BeckRS 66759 Rn. 51; BAG, Urteil vom 15.05.2013 – 5 AZR 130/12, NZA 2013, 1076 Rn. 22). Der wohl mittlerweile überholten Meinung des Bundesarbeitsgerichts, auch im bestehenden Arbeitsverhältnis sei bei unwirksamer Anordnung von Kurzarbeit gemäß § 296 BGB ein Angebot entbehrlich, da es seitens des Arbeitgebers einer Mitwirkungshandlung – Einrichtung eines funktionsfähigen Arbeitsplatzes – bedurft hätte, (BAG, Urteil vom 27.01.1994 – 6 AZR 541/93, NZA 1995, 134 (134 f.)) kann sich die Kammer nicht anschließen. Dies gründet zuvorderst darauf, dass § 615 BGB iVm §§ 293 ff. BGB den im allgemeinen Schuldrecht bei synallagmatischen Leistungsverknüpfungen gemäß der §§ 275 Abs. 1, 326 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 BGB bestehenden Grundsatz „Ohne Arbeit kein Lohn“ durchbricht und somit nach Meinung der Kammer restriktiv auszulegen ist. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund des im allgemeinen Schuldrecht entwickelten Dogmas der Exklusivität von Annahmeverzug und Unmöglichkeit (Bieder in BeckOGK, BGB, Stand: 01.07.2022, § 615 Rn. 6). Auch ist zu berücksichtigen, dass aufgrund der gesetzlichen Systematik der §§ 294 – 296 BGB die komplette Entbehrlichkeit des Angebots die Ausnahme zum wörtlichen Angebot und dieses wiederum die Ausnahme zum tatsächlichen Angebot darstellen soll. Dieses Regel-Ausnahme-Verhältnis erscheint bei einer wortlautgetreuen Anwendung der §§ 294 – 296 BGB allerdings im Arbeitsrecht ins Gegenteil verkehrt, da aufgrund der Verpflichtung des Arbeitgebers, den Arbeitnehmer zu beschäftigen, eine Mitwirkungshandlung – Einrichtung eines funktionsfähigen Arbeitsplatzes – besteht, für welche typischerweise auch eine Zeit nach dem Kalender bestimmt ist, sodass im Normalfall ein Angebot des Arbeitnehmers gemäß § 296 BGB entbehrlich wäre. So muss die 2. Alternative des § 295 Satz 1 BGB dahingehend teleologisch reduziert werden, dass allein die Bereitstellung eines funktionsfähigen Arbeitsplatzes keine Mitwirkungshandlung im Sinne des Annahmeverzugsrechts darstellt, sodass ein automatisches Eingreifen von § 296 BGB und damit auch des Annahmeverzugs verhindert werden kann. Deutlich wird dies durch einen Vergleich mit § 295 Satz 1 Alt. 1 BGB, da hier zumindest ein zusätzliches aktives Tun des Arbeitgebers – Erklärung der Nichtannahme – gefordert wird. Durch eine solche teleologische Reduktion ist es dem Arbeitnehmer nicht möglich, die rechtswidrige Anordnung von Kurzarbeit lediglich zu dulden, um später die Differenzvergütung zu liquidieren. Erst wenn der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber durch ein wörtliches Angebot verdeutlicht hat, dass er gegen die Anordnung von Kurzarbeit protestiere, erscheint es interessengerecht, ihm bei Rechtswidrigkeit dieser Anordnung die korrespondierende Differenzvergütung zuzusprechen. Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass der Kläger nicht damit rechnen konnte, dass ihm aufgrund seines Protests ein korrespondierender Arbeitsplatz zur Verfügung gestellt werde, da von ihm zumindest gefordert werden kann, den Arbeitgeber auf seine ablehnende Haltung hinzuweisen, sodass dieser mögliche Schritte zur Abwendung eines finanziellen Schadens einleiten kann.
3) Vorliegend ist zwischen den Parteien unstreitig, dass der Kläger zu keinem Zeitpunkt der Anordnung von Kurzarbeit widersprochen hat oder seinen Protest auf andere Art zum Ausdruck gebracht hat. Es fehlt somit an einem wörtlichen Angebot. Die Beklagte zu Ziffer 1.) befand sich somit zu keinem Zeitpunkt im Annahmeverzug.
ArbG Stuttgart Urteil vom 6.12.2022, 25 Ca 7031/21
Anmerkung:
Das letzte Wort hat letztendlich das Bundesarbeitsgericht. Der Fall hat erhebliche praktische Relevanz, denn oft wurde Kurzarbeit unwirksam angeordnet.
Beitrag in meinen Podcast
Anbei auch der Link zu meinen Podcast zum Thema: „Lohn ohne Arbeit – geht das?„
Rechtsanwalt Andreas Martin – Fachanwalt für Arbeitsrecht
Verjährung von Urlaubsansprüchen

Urlaub und Verjährung
Mit der Frage von der Verjährung von Urlaubsansprüchen haben sich diverse Arbeitsgerichte bereits beschäftigt. Bis vor ein paar Monaten war klar, dass der Urlaubsanspruch der dreijährigen Verjährung unterfällt und das vor allem der Beginn der Verjährung das Ende des Jahres ist, in dem der Urlaubsanspruch fällig war.
Dazu wie folgt:
Was ist Urlaub?
Urlaub im arbeitsrechtlichen Sinne ist die bezahlte Arbeitsbefreiung des Arbeitnehmers unter Weiterzahlung seines Arbeitsentgelts.
Was ist Urlaubsentgelt?
Das Urlaubsentgelt ist der Lohn während des Urlaubs.
Was ist Urlaubsgeld?
Urlaubsgeld ist eine zusätzlich zum Urlaubslohn (Urlaubsentgelt) gezahlte Vergütung. Dies ist oft freiwillig und erfolgt von Seiten des Arbeitgebers meistens 1 x pro Jahr in Höhe einer festen Summe.
Wo ist der Urlaub gesetzlich geregelt?
Das Recht der Urlaubsansprüche der Arbeitnehmer ist im Bundesurlaubsgesetz geregelt.
Ab wann besteht der volle Urlaubsanspruch?
Der volle Urlaubsanspruch entsteht nach nach einer sechsmonatigen Betriebszugehörigkeit.
Wie hoch ist der Mindesturlaubsanspruch?
Der Mindesturlaubsanspruch nach dem Bundesurlaubsgesetz beträgt jährlich 24 Werktagen bzw. 20 Arbeitstagen. Einfach ausgedrückt, hat jeder Arbeitnehmer nach der Wartezeit von 6 Monaten einen Anspruch auf 4 Wochen Erholungsurlaub pro Kalenderjahr.
Bis wann ist der Urlaub zu nehmen?
Der Urlaub ist grundsätzlich bis zum Ende des Kalenderjahres vollständig zu nehmen, in dem der Urlaubsanspruch entstanden ist.
Hat der Arbeitnehmer das Recht auf Selbstbeurlaubung?
Nein, ein solches Recht besteht nicht. Die Selbstbeurlaubung eines Arbeitnehmers gibt dem Arbeitgeber das Recht, eine außerordentliche Kündigung auszusprechen.
Wozu muss der Urlaub genutzt werden?
Der Urlaub muss zur Erholung genutzt werden. Die Ausübung einer Erwerbstätigkeit während der Urlaubstage ist nicht zulässig.
Unterliegt der Urlaub der Verjährung?
Ja, der Urlaub unterliegt grundsätzlich der Verjährung. Daran ändert auch die neueste Entscheidung des BAG nichts.
Kann Urlaub verfallen?
Ja, auch der Verfall des Urlaubs ist immer noch möglich. Allerdings sind daran bestimmte Voraussetzungen geknüpft. Da der Verfall eher als die Verjährung – in der Regel stattfindet – hat das BAG auch hierüber entschieden und knüpft an einen Verfall die Voraussetzung, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer über den Urlaubsanspruch belehrt und auch über den Verfall des Urlaubs bei Nichtnahme.
Was hat das BAG (Urteil vom 20. Dezember 2022 – 9 AZR 266/20) zum Verfall und zur Verjährung von Urlaubsansprüchen entschieden?
Der europäische Gerichtshof hat die Regelungen über den Verfall und die Verjährung von Urlaub in Frage gestellt bzw. an bestimmte Voraussetzungen geknüpft.
Das Bundesarbeitsgericht (Urteil des BAG vom 20. Dezember 2022 – 9 AZR 266/20) hatte sich nun am 20.12.2022 sih mit der Problematik der Verjährung von Ansprüchen auf Urlaub auseinandergesetzt.
Nach dem BAG unterliegen Urlaubsansprüche grundsätzlich der gesetzlichen Verjährung von drei Jahren. Allerdings beginnt diese Verjährungsfrist erst dann ab dem Ende des Kalenderjahres zu laufen, in dem der Arbeitgeber den Arbeitnehmer über seinen konkreten Urlaubsanspruch und die Verfallsfristen belehrt und der Arbeitnehmer den Urlaub dennoch aus freien Stücken nicht genommen hat.
Nach dem BAG kann also die Urlaubsverjährung erst dann beginnen – diese beginnt immer erst zum Ende des Kalenderjahres – wenn der Arbeitgeber:
- der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer über seinen Urlaubsanspruch
- über die Verfallsfristen belehrt hat und
- der Arbeitnehmer den Urlaub freiwillig nicht angetreten hat.
Das Bundesarbeitsgericht führt dazu in seiner Pressemitteilung vom 20.12.2022 zur Nr. 48/22 -aus:
Die Revision des Beklagten hatte vor dem Neunten Senat des Bundesarbeitsgerichts keinen Erfolg. Zwar finden die Vorschriften über die Verjährung (§ 214 Abs. 1, § 194 Abs. 1 BGB) auf den gesetzlichen Mindesturlaub Anwendung. Die regelmäßige Verjährungsfrist von drei Jahren beginnt bei einer richtlinienkonformen Auslegung des § 199 Abs. 1 BGB jedoch nicht zwangsläufig mit Ende des Urlaubsjahres, sondern erst mit dem Schluss des Jahres, in dem der Arbeitgeber den Arbeitnehmer über seinen konkreten Urlaubsanspruch und die Verfallfristen belehrt und der Arbeitnehmer den Urlaub dennoch aus freien Stücken nicht genommen hat.
Der Senat hat damit die Vorgaben des Gerichtshofs der Europäischen Union aufgrund der Vorabentscheidung vom 22. September 2022 (- C-120/21 -) umgesetzt. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs tritt der Zweck der Verjährungsvorschriften, die Gewährleistung von Rechtssicherheit, in der vorliegenden Fallkonstellation hinter dem Ziel von Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union zurück, die Gesundheit des Arbeitnehmers durch die Möglichkeit der Inanspruchnahme zu schützen. Die Gewährleistung der Rechtssicherheit dürfe nicht als Vorwand dienen, um zuzulassen, dass sich der Arbeitgeber auf sein eigenes Versäumnis berufe, den Arbeitnehmer in die Lage zu versetzen, seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub tatsächlich auszuüben. Der Arbeitgeber könne die Rechtssicherheit gewährleisten, indem er seine Obliegenheiten gegenüber dem Arbeitnehmer nachhole.
Der Beklagte hat die Klägerin nicht durch Erfüllung der Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten in die Lage versetzt, ihren Urlaubsanspruch wahrzunehmen. Die Ansprüche verfielen deshalb weder am Ende des Kalenderjahres (§ 7 Abs. 3 Satz 1 BUrlG) oder eines zulässigen Übertragungszeitraums (§ 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG) noch konnte der Beklagte mit Erfolg einwenden, der nicht gewährte Urlaub sei bereits während des laufenden Arbeitsverhältnisses nach Ablauf von drei Jahren verjährt. Den Anspruch auf Abgeltung des Urlaubs hat die Klägerin innerhalb der Verjährungsfrist von drei Jahren erhoben.
Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 20. Dezember 2022 – 9 AZR 266/20
Rechtsanwalt Andreas Martin
Kann man einen Beamten aus den Dienst entfernen?

Kündigung und Entfernung
Wenn der Arbeitgeber einen Arbeitnehmer kündigen möchte, so ist dies in der Regel ordentlich möglich, sofern ein Kündigungsgrund vorliegt. Bei der außerordentlichen (fristlosen) Kündigung muss sogar ein wichtiger Grund für die Kündigung vorliegen. Oft ist es schwierig einen entsprechenden Kündigungsgrund nachzuweisen, da der Arbeitgeber-wenn der allgemeinen Kündigungsschutz nach dem Kündigungsschutzgesetz gilt-einen von drei im Kündigungsschutzgesetz geregelten Gründe für die Kündigung braucht. Oft kündigen Arbeitgeber den Arbeitnehmer, den diese gerade loswerden möchten und überlegen sich dann, wie die Kündigung am besten begründet werden kann.
Beamtenverhältnis und Maßnahmen bei Pflichtverletzung
Im Beamtenverhältnis ist dies anders. Ein Beamter auf Lebenszeit muss nicht mit einer Kündigung seines Dienstverhältnisses rechnen. Der Dienstherr (Arbeitgeber) kann allerdings bei schweren Pflichtverletzungen des Beamten entsprechende Maßnahmen/Disziplinarmaßnahmen ergreifen. Die schwerste Disziplinarmaßnahme ist der Widerruf / Entfernung des bzw. aus dem Beamtenverhältnisses.
Disziplinarvorschriften Beamte
Während die beamtenrechtlichen Pflichten in den Beamtengesetzen von Bund und Ländern festgelegt sind, regelt das Disziplinarrecht, welche Folgen Pflichtverletzungen nach sich ziehen können und welches Verfahren hierbei anzuwenden ist. Für die Beamtinnen und Beamten des Bundes gilt das Bundesdisziplinargesetz.
Disziplinarmaßnahmen
Sobald ein Beamter schuldhaft die ihm obliegenden Pflicht verletzt, begeht dieser ein Dienstvergehen. In solchen Fällen können vom Dienstherrn disziplinarrechtliche Maßnahmen ergriffen werden. Liegen tatsächliche Anhaltspunkte für ein solches Dienstvergehen des Beamten vor, hat der Dienstvorgesetzte sogar die Pflicht, ein Disziplinarverfahren einzuleiten und den Sachverhalt aufzuklären. Nach Abschluss muss der Dienstvorgesetzte dann entscheiden, ob das Verfahren eingestellt oder eine Disziplinarmaßnahme verhangen wird.
Bundesdisziplinargesetz
Das Bundesdisziplinargesetz (gilt nur für Bundesbeamte) sieht fünf Disziplinarmaßnahmen vor, die je nach Schwere des Dienstvergehens vom Dienstherrn ausgesprochen werden können.
Dies sind
- Verweis
- Geldbuße
- Zurückstufung
- Kürzung der Dienstbezüge und die
- Entfernung aus dem Beamtenverhältnis
Ein Beamter wird nur bei schweren (schwersten) Dienstvergehen aus dem Beamtenverhältnis entfernt. Das Vertrauen des Dienstherrn oder der Allgemeinheit muss durch den Verstoß endgültig verloren sein.
Urteil des OVG Rheinland-Pfalz
Das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz (Urteil vom 2. November 2022, Aktenzeichen: 3 A 10295/22) hatte nun über einen Fall der Entfernung eines Beamten aus dem Dienstverhältnis zu entscheiden.
JVA-Beamter hatte Betäubungsmittel dabei
Ein 38-jähriger Beamter einer JVA wurde wegen des Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge von einem Strafgericht rechtskräftig zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Der Dienstherrn entschied sich dazu den Beamten aus dem Dienst zu entfernen.
Die erste Instanz (Verwaltungsgericht Tier) hielt die beamtenrechtliche Entfernung für wirksam und entschied gegen den Landesbeamten.
Beamter verlor vor dem OVG
Der Beamte legte gegen die Entscheidung in der ersten Instanz die Berufung ein. Die Berufung wurde vom OVG zurückgewiesen.
Ausführungen des Oberverwaltungsgerichts
In der Pressemitteilung Nr. 16/2022 der Justiz in Rheinland-Pfalz wurde dazu ausgeführt:
Maßgeblich für die Zurückweisung der Berufung des Beamten war für den Senat der durch die Straftat des Beamten eingetretene Vertrauensverlust. Dem stünden die von ihm geltend gemachten Milderungsgründe nicht entgegen. Vielmehr sei auch unter Berücksichtigung dieser Gründe das Vertrauen des Dienstherrn und der Allgemeinheit in die Amtsführung des JVA-Beamten irreversibel zerstört. Die Dienstentfernung sei danach unumgänglich, auch um die Bediensteten im Justizvollzug wirksam an ihre Pflichten zu erinnern und von einer Nachahmung abzuhalten.
OVG Rheinland-Pfalz – Urteil vom 2. November 2022, Aktenzeichen: 3 A 10295/22
Anmerkung:
Zu beachten war, dass die Pflichtverletzung (Drogenbesitz) gerade eines Beamten im Vollzug einer JVA sehr schwer wiegt, da dieser ständig mit Gefangenen zu tun hat, die ggfs. selbst Drogen konsumieren.
Rechtsanwalt Andreas Martin
Versetzung eines schwerbehinderten Beamten und Beteiligung des Integrationsamtes

Beamtenrecht und Versetzung in den Ruhestand
Das Bundesverwaltungsgericht (Urteil vom 07.07.2022 – BVerwG 2 A 4.21) hat entschieden, dass das Integrationsamt bei der Versetzung eines schwerbehinderten Lebenszeitbeamten in den Ruhestand wegen Dienstunfähigkeit nicht nach Maßgabe des § 168 SGB IX zu beteiligen ist. Nach dem BVerwG ergibt sich auch nichts Gegenteiliges aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union, wie zum Beispiel aus dem Urteil des EuGH vom 9.3.2017 – Rs. C-406/15, weil das durch das Verfahren der Zurruhesetzung für Lebenszeitbeamte bewirkte Schutzniveau (§§ 44 ff. BBG) jedenfalls nicht hinter dem durch die §§ 168 ff. SGB IX für AN begründeten zurückbleibt.
Was war passiert?
Ein Beamter des BND klagte gegen seine Versetzung in den Ruhestand wegen dauernder Dienstunfähigkeit. Der Beamte erlitt am 12. September 2015 einen Autounfall und ist seitdem durchgehend „arbeitsunfähig“ erkrankt. Nach mehreren Untersuchungen und stationären Behandlungen sowie einer erfolglos durchgeführten Wiedereingliederung beauftragte der BND einen Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie mit der Erstellung eines psychiatrisch-neurologischen Fachgutachtens.
starke psychische Beeinträchtigungen
Der Facharzt stellte mehrere stark ausgeprägte psychische Erkrankungen fest, wie zum Beispiel rezidivierende depressive Störung, derzeit mittel- bis schwergradige Episode und teilte mit, dass der Beamte/ Kläger wegen einer gravierenden seelischen Erkrankung dienstunfähig sei.
Der Dienstherr beantragte mit dem an das Bundeskanzleramt gerichtetem Schreiben vom 7. Dezember 2018 die Zustimmung zur Versetzung des Klägers in den Ruhestand wegen Dienstunfähigkeit. Das Bundeskanzleramt erteilte daraufhin mit Schreiben vom 10. Dezember 2018 „unter dem Vorbehalt, dass der Beamte keine Einwendungen erhebt – gemäß § 47 Abs. 2 Satz 2 BBG zu der beabsichtigten Maßnahme“ das Einverständnis.
Anhörung
Mit Schreiben vom 30. Januar 2019 wurde dann der Beamte vom BND angehört. Der Kläger wandte sich dagegen mit einem anwaltlichen Schreiben, allerdings ohne Erfolg.
Die Gleichstellungsbeauftragte, die Schwerbehindertenvertretung und der auf Antrag des Klägers hinzugezogene Personalrat erhoben keine Einwendungen gegen die beabsichtigte Versetzung des Klägers in den Ruhestand.
Versetzung in den Ruhestand
Mit Bescheid vom 15. Juli 2019 verfügte der Präsident des BND die Versetzung des Klägers in den vorzeitigen Ruhestand. Den hiergegen erhobenen Widerspruch des Klägers wies der BND mit Widerspruchsbescheid vom 5. März 2021 zurück.
Klage vor dem Bundesverwaltungsgericht
Es kam dann zum Gerichtsverfahren, da der Kläger am 16. Februar 2021 (Untätigkeits-)Klage erhob. Der Beamte stützte die Klage vor allem auf formelle Mängel der Beschwerde.
Hier bestand die Besonderheit, dass die Eingangsinstanz nicht das Verwaltungsgericht war, sondern die erste und einzige Instanz (§ 50 Abs. 1 Nr. 4 VwGO) das Bundesverwaltungsgericht.
Klageabweisung durch das BVerwG
Dieses hält die Klage für unbegründet und wies diese ab.
Das Bundesverwaltungsgericht führte dazu aus:
Der Beteiligung des Integrationsamtes bedurfte es nicht, obwohl beim Kläger bereits zu Beginn des Zurruhesetzungsverfahrens ein Grad der Behinderung von 60 vom Hundert festgestellt und er als schwerbehinderter Mensch i. S. v. § 2 Abs. 2 SGB IX anerkannt war. Denn § 168 SGB IX, wonach die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines schwerbehinderten Menschen durch den Arbeitgeber der vorherigen Zustimmung des Integrationsamtes bedarf, ist nicht auf das Verfahren der Zurruhesetzung eines Lebenszeitbeamten nach §§ 44 ff. BBG anzuwenden (a. A. von Roetteken, ZBR 2018, 73 <79 ff.>; ders. jurisPR-ArbR 50/2021 Anm. 8 zu OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 29. Juli 2021 – 4 B 14.19 -; Düwell, in: Dau/Düwell/Joussen/Luik, SGB IX, 6. Aufl. 2022, Vorbem. § 168 Rn. 11; Rolfs, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 22. Aufl. 2022, § 168 SGB IX Rn. 3). Dies gilt selbst im Hinblick auf den Umstand, dass die Zurruhesetzung nach §§ 44 ff. BBG auch Fälle erfasst, in denen der zur Zuerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft führende körperliche Zustand des Beamten zugleich die Dienstunfähigkeit i. S. v. § 44 Abs. 1 BBG begründet.
Auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Auslegung von Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (im Folgenden: RL 2000/78/EG) führt nicht dazu, dass die Vorschriften der §§ 168 ff. SGB IX auf das Verfahren der Zurruhesetzung eines Lebenszeitbeamten nach Maßgabe der §§ 44 ff. BBG anzuwenden sind.
Nach Art. 7 Abs. 2 RL 2000/78/EG steht im Falle von Menschen mit Behinderung der Gleichbehandlungsgrundsatz weder dem Recht der Mitgliedstaaten entgegen, Bestimmungen zum Schutz der Gesundheit und der Sicherheit am Arbeitsplatz beizubehalten oder zu erlassen, noch steht er Maßnahmen entgegen, mit denen Bestimmungen oder Vorkehrungen eingeführt oder beibehalten werden sollen, die einer Eingliederung von Menschen mit Behinderung in die Arbeitswelt dienen oder diese Eingliederung fördern. Diese Bestimmung hat der Europäische Gerichtshof dahingehend ausgelegt, dass die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet sind, Maßnahmen im Sinne des Art. 7 Abs. 2 RL 2000/78/EG beizubehalten oder zu erlassen, dies aber nicht den Schluss zulässt, dass von den Mitgliedstaaten erlassene Bestimmungen außerhalb des Anwendungsbereichs des Unionsrechts liegen. Ist der Bereich des Unionsrechts eröffnet, haben die Mitgliedstaaten ihr Ermessen bei der Wahl zwischen den verschiedenen Durchführungsmodalitäten unter Beachtung der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts auszuüben, zu denen insbesondere der Grundsatz der Gleichbehandlung gehört (EuGH, Urteil vom 9. März 2017 – C-406/15, Milkova – NZA 2017, 439 Rn. 52 f.).
Urteil vom 07.07.2022 – BVerwG 2 A 4.21
Anmerkung:
Die Entscheidung zeigt, dass gerade bei Schwerbehinderten – auch wenn es hier um das Beamtenrecht ging – diverse Vorschriften einzuhalten sind. Es wäre für den Dienstherrn hier stark nachteilig gewesen, wenn nach dem langen Verfahren über die Einschätzung der Diensttauglichkeit nun alles an der fehlenden Beteiligung des Integrationsamtes gescheitert wäre.
Rechtsanwalt Andreas Martin